Inspiriert von der Masche des Schallplattenverkäufers

Der analoge Mann

Aus Kreuzberg und der Welt: Die Tricks des Plattenhändlers

1.000 Singles und 500 LPs habe ich allein im vergangenen Jahr gekauft. Julia ist entsetzt. Und genervt. Es ist zu viel. Das ganze Zeug belastet sie, schnürt ihr den Hals zu. Die Platten stehen in meinem Zimmer auf dem Boden weit in den Raum hinein, weil in den Regalen kein Platz mehr ist. Sie hat natürlich recht. Es muss etwas geschehen. Aber ­irgendwie hatte ich keine Wahl – und das kam so.

Fast alle Platten, abgesehen von den neuen, habe ich in einem Laden gekauft, der im vergangenen Jahr bei mir um die Ecke eröffnete. Der Besitzer hatte den Bestand eines alten Plattenladens gekauft, rund 200.000 Platten. Second-Hand-Plattenläden haben ja zumeist einen Museumscharakter und werden von Überzeugungstätern betrieben, die selbst Sammler sind.

Oft sind Platten so teuer ausgepreist, dass es scheint, als würden die Händler sich nicht so gern von ihnen trennen wollen. Der Besitzer des neuen Ladens hingegen hatte ein ganz anderes Geschäftsmodell: die Zerschlagung der Sammlung. Den Abverkauf der wer­tigen Rockalben der siebziger und achtziger Jahre über Discogs, dem größten Online-Marktplatz für Vinyl, und über den Laden, der, günstig im Kreuzberger Bergmannkiez gelegen, im Sommer viele Touristen anzieht. In den ersten Monaten stürzte ich mich auf die Ramschkisten, kaufte Hunderte herrlich seltsame, oft sehr seltene, aber offensichtlich völlig wertlose Singles. Es gibt im Deutschen keine Bezeichnung für diesen Stil. Discogs führt solche Platten meist unter den Schlagwörtern Schlager und Pop, manchmal auch unter Comedy. Es sind zumeist komisch gemeinte oder tatsächlich komische Platten. Ich nenne sie »German novelty records«.

Der Laden ist geschlossen. Irgendwie schade, aber auch ganz gut so. Das Geschäft war für mich ein Fass ohne Boden. 

In den folgenden Monaten freundete ich mich mit dem Besitzer an. Eines Tages sagte er: »Von dem Zeug, das dich interessiert, habe ich noch das ganze Lager voll. Willst du mal sehen?« Und so entdeckte ich dann den riesigen Lagerraum mit Tausenden von Platten, die ich noch nie gesehen hatte. Weil ich sehr viel kaufte, lag der Stückpreis im Schnitt bei 30 Cent. Eine einmalige Gelegenheit. Bald war ich jede Woche da. Später brachte ich auch meine DJ-Kolleg:innen mit.

Im Januar brach dann das Geschäft ein, die übliche Flaute im Einzelhandel Anfang des Jahres. Gleichzeitig gingen aber plötzlich auch online die Verkäufe zurück. Die gesuchten und hochwertigen Platten waren alle verkauft. Im Februar gab der Besitzer kurzerhand auf, kündigte den Mietvertrag und suchte einen neuen Käufer für den Rest. Monatelang stöberte ich noch im Lager, bis er dann im vergangenen Monat endgültig verkaufte.

Jetzt ist Schluss. Der Laden ist geschlossen. Irgendwie schade, aber auch ganz gut so. Das Geschäft war für mich ein Fass ohne Boden. Jetzt werde ich meine Plattensammlung neu ordnen und bewerten müssen. Viele Platten, die ich schon besaß, habe ich plötzlich in besserem Zustand und mit Cover, aber auch Hunderte von sehr seltenen und seltsamen Platten, die ich vorher nicht kannte. Seit ein paar Monaten verkaufe ich Platten, wenn ich zum Tanzen gehe. Das läuft ganz gut. Aber noch zu langsam. Jede Woche gehen so nur eine Handvoll Platten weg. Mich inspiriert der Geschäftstrick vom Plattenladenbesitzer. Zerschlagung der Sammlung. Abverkauf der wertigen Scheiben. Ich werde es versuchen. Den Rest aber werde ich nicht verkaufen, den behalte ich.