Im Himalaya der Korruption

Die Tiberi-Affäre im Pariser Rathaus setzt Frankreichs Staatspräsidenten Chirac zu

Xavière Tiberi - Ehefrau des Pariser Oberbürgermeisters Jean Tiberi vom neogaullistischen RPR - ist eine sehr verantwortungsbewußte Frau. So wachte sie höchstpersönlich über die Handwerker, die in der Sozialwohnung ihres Sohnes die Badewanne mit Marmor verkleiden durften; der kleine Mißbrauch öffentlicher Gelder kostete den Parteifreunden ihres Mannes, die damals an der Regierung waren, einigen Angstschweiß. Doch damit nicht genug, ließ sie sich einen Aufsatz von 36 Seiten mit 210 000 Francs (gut 60 000 Mark) honorieren. Bezahlt wurde der Spaß aus den Kassen der RPR-Bezirksregierung im Département Essonne im südlichen Pariser Umland. Die Summe galt als "Lohn für eine Zuarbeit in den Monaten März bis Dezember 1994"; in diesem Zeitraum wurden ihr monatlich rund 7 000 Mark überwiesen. Doch leider kann Xavière T. bis heute nicht erklären, worin ihre Tätigkeit überhaupt bestand. Hingegen weiß man genau, wie oft die Gattin des Pariser Stadtoberhaupts zu Zwecken der Mitarbeit ins Bezirksparlament der Essonne kam: kein einziges Mal.

Laurent Davenas, Staatsanwalt des Départements Essonne, eröffnete, nachdem ihm diese Transaktionen bekannt geworden waren, 1996 ein Ermittlungsverfahren. Der ehrgeizige Staatsanwalt hatte es jedoch nicht besonders eilig, hohen politischen Stellen in die Quere zu geraten - die in dieser Zeit mit den RPR-Parteifreunden der Tiberis besetzt waren. Doch unglücklicherweise flog der Staatsanwalt, der nebenbei ein passionierter Bergsteiger ist, am 26. Oktober jenes Jahres in den Urlaub. Sein Reiseziel: die Gipfel des Himalaya. Zuvor vertraute er die Akte Tiberi der Justizpolizei an. Sein Stellvertreter Dujardin hatte jedoch nichts Besseres zu tun, als die Akten persönlich zu berarbeiten.

Die Beamten alarmierten sofort ihre Vorgesetzten, diese informierten wiederum die Innen- und Justizminister Debré und Toubon. Am 1. November 1996 erhielt die französische Botschaft in Katmandu, Nepal, vom Pariser Innenministerium den Auftrag, unter allen Umständen Davenas zu finden; dieser solle die Umtriebe seines Stellvertreters schleunigst stoppen. Die Botschaft schickte, für 1 000 Dollar pro Flugstunde, einen Hubschrauber der Nepali Airways los, der sich auf die Suche nach dem Gipfelstürmer macht. Er erreichte zwar das Basislager - doch Davenas war bereits zum Gipfel aufgebrochen. Die Besatzung übergab das Schreiben für den Staatsanwalt an ein anderes Mitglied der Expedition, Davenas erhielt den Brief bei seinem Abstieg ins Basislager ausgehändigt - doch der nahm die Aufforderung, sofort im Pariser Ministerium anzurufen, nicht ernst. So kam das Ermittlungsverfahren doch noch ins Rollen. Im Juli 1997 wurde der Prozeß gegen Xavière Tiberi allerdings wegen Formfehlern niedergeschlagen.

In den letzten Wochen kochte die Affäre wieder hoch. Zunächst veröffentlichte der Staatsanwalt Davenas seine Erinnerungen, in schwankhafter Form unter dem Titel "Brief vom Himalaya"; als Anhang zum Text wird der vollständige "Xavière Tiberi-Report" abgedruckt. Die neue (sozialistische) Justizministerin Elisabeth Guigou zeigt keine rechte Lust, die Staatsanwaltschaft zu sanktionieren, und überläßt die disziplinarrechtlichen Folgen dem Haut Conseil de la Magistrature, der obersten Standesorganisation der Justiz.

Ihr gaullistischer Amtsvorgänger Toubon, mittlerweile Berater von Chirac im Präsidentenamt, sieht sich einmal mehr blamiert und hat die Faxen endgültig dicke. Bereits zum Zeitpunkt der Hubschrauberaffäre waren die Beziehungen zwischen dem damaligen Minister und dem Pariser Oberbürgermeister Tiberi äußerst angespannt. Anfang April versucht Toubon im Pariser Stadtrat zu "putschen": Mit 30 (von insgesamt 92) Abgeordneten der bürgerlichen Parteien RPR und UDF gründet er eine neue Fraktion im Kommunalparlament, die er kurz "Paris" tauft. Mit dieser "Dissidenten"-Gruppe ruft er dazu auf, die kommunale Mehrheit "zu erneuern" und die Hauptstadt "auf demokratischere Weise zu regieren". Tiberi ist völlig außer sich und entzieht seinen Stellvertretern, die an dem Unternehmen beteiligt sind, sämtliche Vollmachten; zugleich verliert er jedoch seine Mehrheit.

Seither überziehen sich die Pariser Kontrahenten mit öffentlichen Vorwürfen und "Komplimenten". Fraglich ist, warum Präsident Chirac nicht eingreift, während zwei Figuren des RPR sich gegenseitig zerfleischen, die ihre politische Karriere ausschließlich ihm zu verdanken haben. Die Antwort liegt vermutlich darin, daß Chirac die Hände gebunden sind: Er kann die Tiberis nicht von der politischen Bühne verdrängen, da sie zuviel unangenehme Details seiner Karriere kennen. Wie zum Beweis erscheint just am 19. Mai - dem Tag, an dem Xavière Tiberi im Rahmen eines neuen Ermittlungsverfahrens vorgeladen und vorläufig festgenommen wurde - eine Titelstory des Boulevardblatts Le Parisien. Darin wird "enthüllt", daß in den achtziger Jahren im Pariser Rathaus unter Chiracs Regentschaft rund 300 "fiktive Mitarbeiter" bezahlt wurden. Geschätzte Ausgaben an öffentlichen Gelder: 100 Millionen Francs pro Jahr. Auf diese Weise wurde demnach ein Teil der RPR-Apparats finanziert. In der Tat ist es seit langem ein offenes Geheimnis, daß das Pariser Rathaus als Geldpumpe diente, um Chirac eine ökonomische Basis für die Eroberung des obersten Staatsamts zu verschaffen.

Justizministerin Guigou erklärte jüngst eine gerichtliche Vernehmung des Staatspräsidenten für juristisch möglich; Bauminister Bartolone spekulierte bereits über vorgezogene Präsidentschaftswahlen. Premierminister Jospin hat seine Kabinettskollegen allerdings öffentliche Äußerungen verboten, um den Verlauf der Cohabitation - die Koexistenz mit einem Exekutivoberhaupt aus dem gegnerischen politischen Lager - nicht zu gefährden. Böse Überraschungen könnten Chirac aber dennoch bevorstehen. Für den Fall, daß seine Gattin juristisch behelligt werden sollte, ließ sich Jean Tiberi vorsorglich bei einem Gespräch mit Chirac über den "zerbrechlichen" Charakter seiner Gattin aus, die leicht "zusammenbrechen" und delikate Aussagen bei der Justiz machen könnte. Die Presse interpretierte dies, nicht zu Unrecht, als kaum verhüllte Drohung.