Prost Neujahr im Arbeitsamt

Die französische Arbeitslosenbewegung besetzt Arbeitslosenkassen und setzt die Regierung unter Druck

Zum ersten Mal seit dem Amtsantritt der rosa-rot-grünen Linksregierung im Juni 1997 hat eine soziale Bewegung diese erfolgreich unter Druck gesetzt und zum teilweisen Nachgeben gegenüber ihren Forderungen gezwungen.

Die neue soziale Mobilisierung, welche die Jospin-Regierung nun nach einigen Wochen in Zugzwang gebracht hat, kommt von jener gesellschaftlichen Kategorie, auf welche die Entscheidungen von Ministern und Kabinett bisher am wenigsten Rücksicht genommen haben: den vom Erwerbsleben Ausgeschlossenen. Die Kernarbeiterschaft, das heißt die noch über gewerkschaftliche Organisierung und soziale Mindeststandards verfügenden Belegschaften größerer Betriebe oder die - am besten geschützten - Beschäftigten der öffentlichen Dienste, blieben für die Regierung stets ein Faktor, auf den es eine gewisse Rücksicht zu nehmen galt.

In ihre Richtung ging das Signal der am 10. Oktober beschlossenen Einführung der 35-Stunden-Woche, wenngleich die symbolträchtige Reform das Zuckerl darstellt, mit dem die bittere Medizin der Flexibilisierung der Arbeitszeiten hinuntergeschluckt werden soll. Die Mittelschichten, die zur Finanzierung des Maastricht-Haushalts gewisse materielle Opfer (Steuern, Streichung des Kindergelds ab einer bestimmten Einkommensobergrenze, die aber wieder heraufgesetzt werden soll) zu bringen haben, sprach Jospin via Fernsehen direkt an, um auf ihre Sorgen zu antworten.

Für die Erwerbslosen gab es gar nichts, sieht man von Initiativen für die jüngste Altersgruppe ab, der angesichts der horrenden Jugendarbeitslosigkeit - über 25 Prozent - dringend der Anschein einer Perspektive geboten werden muß. Es genügt, die Entwicklung des gesetzlichen Mindestlohns SMIC für Lohnabhängige (derzeit 6 600 Francs, rund 1 950 Mark monatlich) und der Mindesteinkommen für nicht abhängig Beschäftigte nebeneinander zu betrachten. Der SMIC wurde im Juli von der neuen Regierung um "immerhin" vier Prozent (weniger als von der konservativen Vorgängerregierung) erhöht. Arbeitslosen- und Sozialhilfe oder Mindestrente stiegen erst zum 1. Januar 1998 um gerade einmal 1,1 Prozent - die Steigerung liegt unterhalb der Inflationsrate. Erwerbslose oder Sozialhilfeempfänger haben in der Gleichgewichtsübung einer Regierung zwischen den verschiedenen sozialen Interessen kein Gewicht, da sie normalerweise keinen Hebel (wie etwa Streiks) haben, um ihre Interessen duchzusetzen.

Nicht nur von der Regierung wurden die Erwerbslosen links liegengelassen, sondern auch von Teilen der in Gewerkschaften organisierten Arbeiterbewegung. So wird die Arbeitslosenkasse UNEDIC paritätisch von Gewerkschaften und Arbeitgebern getragen, ihre Verwaltung ist derzeit der (sozialdemokratischen) Gewerkschaft CFDT übertragen. Unter ihrer Verwaltung wird seit Jahren an der Arbeitslosenkasse eine "rentable" Politik durchexerziert, die dafür sorgt, daß diese Branche des Sozialversicherungssystems - im Gegensatz etwa zur Krankenkasse - keine roten Zahlen schreibt, sondern Überschüsse erwirtschaftet.

Die Kehrseite der Medaille war die Einführung der "degressiven Einheits-Unterstützung für Arbeitslose". Degressiv bedeutet nichts anderes als "kontinuierlich abnehmend": Alle vier Monate sinkt das Arbeitslosengeld, das auf der Grundlage der zuvor eingezahlten Beiträge ausbezahlt wird, um 17 Prozent. Solange, bis nichts mehr übrig ist. Dann bleibt nur noch die, der UNEDIC vom Staat erstattete (und daher kostenneutrale) "Soldaritäts-Unterstützung" ASS oder die Sozialhilfe RMI, umgerechnet sind dies zwischen 650 und 700 Mark im Monat. Derzeit verfügen 80 Prozent der Arbeitslosen über weniger als 3 000 Francs (knapp 900 Mark) im Monat.

Im Juli 1997 beschlossen die Träger der UNEDIC (mit den Stimmen der Arbeitgeber sowie der reformistischen bis rechten Gewerkschaften CFDT, FO, CFTC und CFE-CGC - gegen den Widerstand der KP-nahen CGT) eine Reform der Arbeitslosenunterstützung. Um "effektiver und transparenter" zu wirken, verwalten nunmehr außenstehende Organisationen (in Form von Fonds) die Gelder - was für viele Arbeitslose die Folge hat, daß sie keine Sonderhilfen mehr beantragen können, weil der direkte Ansprechpartner in der Arbeitslosengeldstelle nunmehr fehlt. Die Selbstorganisationen der Arbeitslosen wie AC!, die Bewegung der Arbeitslosen und Prekären (MNCP) oder die seit Ende der siebziger Jahre von der CGT eingerichteten Arbeitslosenkomitees empörten sich über diese faktische Einschränkung, die zum 1. Oktober wirksam wurde. Zugleich kam die Forderung nach einer "Weihnachtsprämie" für Arbeitslose auf, entsprechend dem 13. Monatsgehalt für Lohnabhängige. In den Vorjahren hatten örtliche Arbeitslosenkassen häufig solche Zusatzsummen ausbezahlt, um Arbeitslosen das Feiern zum Jahresende zu ermöglichen oder um die ärgsten Haushaltslöcher zu stopfen. Die "Reform" macht dies nahezu unmöglich, und bei der UNEDIC-Zentrale heißt es schlicht: "Eine solche Weihnachtsprämie hat nie existiert."

Am 4. Dezember fand in Marseille die erste Demonstration zugunsten der Forderung nach 3 000 Francs (rund 900 Mark) "Prämie" zum Jahresende statt. Am 11. Dezember wurde dort die erste Besetzung einer Arbeitslosenkasse durchgeführt. Ein gutes Dutzend Besetzungen - über ganz Frankreich verteilt - folgte, wobei sich als Schwerpunkte rasch Marseille und Umgebung (bis heute sind hier acht Arbeitslosenkassen besetzt) sowie Arras in Nordfrankreich herausbildeten. Rasch begann sich auch die Solidarität zu organisieren. So sammelten die Besetzer in Marseille in einer Stunde an einer Autobahn-Mautstelle 5 600 Francs Unterstützung. In Paris besetzten Arbeitslosen- und Wohnungslosenkomitees am 17. Dezember symbolisch das Louvre-Museum, im Anschluß testeten sie die Solidarität von Gästen eines teuren Hotels und eines Spezialitäten-Restaurants. Am 30. Dezember wurde auch in Paris eine Sozialbehörde besetzt. Lokale Abgeordnete der KP und der Grünen nahmen unterstützend daran teil.

Gefordert werden die Erhöhung der Mindesteinkommen (Sozial- und Arbeitslosenhilfe) um 1 500 Francs - 450 Mark - "sofort und für alle", die Rücknahme der Reform vom 2. Juli und eine Jahresendprämie. Ferner sollen die Selbstorganisationen der Arbeitslosen an der Ausarbeitung des anstehenden Gesetzes zur 35-Stunden-Woche beteiligt werden, um sicherzustellen, daß die Arbeitszeitverkürzung für mehr Beschäftigung sorgt und diese nicht durch erhöhte Flexibilität verhindert wird.

Laut einer Umfrage der Boulevardzeitung Le Parisien vom 31. Dezember erklären 63 Prozent der Befragten ihre "Solidarität" oder "Sympathie" gegenüber der Bewegung, lediglich 19 Prozent äußern sich ablehnend. Der Parti Communiste (PCF) hat mittlerweile seine Unterstützung für die Forderung einer Weihnachtsprämie erklärt.

Premierminister Jospin signalisierte Ende Dezember grünes Licht für einen Vorschlag des kommunistischen Fraktionsvorsitzenden Alain Bocquet, der Arbeitslosen oder Sozialhilfeempfängern über 55 Jahren zugute kommen soll. Unter der Voraussetzung, daß sie 40 Jahre oder länger Beiträge zur Arbeitslosenversicherung bezahlt haben, soll diesen ein Frührentner-ähnlicher Status ermöglicht werden. Die Maßnahme betrifft rund 22 000 Personen. Arbeitsministerin Martine Aubry kündigte an, daß das ursprünglich für April 1998 angekündigte Gesetz "gegen den sozialen Ausschluß" - das bereits von der Vorgängerregierung Juppé vorgelegt und wegen der Neuwahlen vorübergehend in die Schublade gewandert war - in der Parlamentsdebatte um einige Woche vorgezogen werden soll.

Am 4. Januar schließlich wurde spektakulär bekanntgegeben, daß die Regierung "500 Millionen Francs" für die Unterstützung von Umschulungsmaßnahmen freimache - das Kabinett Juppé hatte hier den Beitrag des Staates 1996 um 2,5 Milliarden gekürzt. Mit anderen Worten: Die neue Regierung macht nunmehr ein Fünftel der Kürzung rückgängig. Die Besetzungen gingen indes weiter. Für den 16. Januar ist ein nationaler Demonstrationstag geplant