Ende des Spektakels

Aus dem "Europäischen Jahr gegen Rassismus" gehen allein die Parteien gestärkt hervor. Für Flüchtlinge sieht die Bilanz dagegen düster aus

Das "Europäische Jahr gegen Rassismus" endete so, wie es vor zwölf Monaten begonnen hatte: Am Wochenende nach Weihnachten lief vor Bari ein mit 850 Flüchtlingen völlig überladenes türkisches Schiff auf Grund. Zwar konnte die italienische Küstenwache alle Passagiere retten - über die Frage jedoch, ob ihnen nun Asyl gewährt wird, ist ein heftiger Streit zwischen der italienischen, österreichischen und deutschen Regierung entbrannt. Während in Bonn Exekutive und Opposition die sofortige Abschiebung der zumeist kurdischen Flüchtlinge verlangten, hat Österreich gerade zwei Monate nach deren Abschaffung die Grenzkontrollen für alle aus Italien einreisenden Personen wieder eingeführt. Die Regierung in Rom reagierte wie beim Tod von über 80 Flüchtlingen in der Adria zum Jahreswechsel 1996/97 nur zögerlich auf die Katastrophe und verbreitete statt dessen nachweihnachtliche Empörung über den von der Türkei geduldeten "skrupellosen Menschenschmuggel".

Auf der Pressekonferenz des italienischen Innenministers am Tag nach dem Unglück fiel dann auch kein Wort über die Gründe der Bootsflüchtlinge, nach Europa zu fliehen. Und schon gar keines darüber, daß es in zunehmendem Maße die Politik der EU-Staaten ist, die die MigrantInnen zur illegalen Einreise zwingt - business as usual zum Jahresausklang. Nicht anders als in London, Bonn oder Paris atmen die Herrschenden in Rom auf: 1997 wäre geschafft, das von der Europäischen Kommission in Brüssel verordnete "Europäische Jahr gegen Rassismus" ist vorüber. Ende des Spektakels.

Wo es nichts mehr zu entlarven gibt, weil sich die europäischen Staaten Monat für Monat mit immer schärferen Ausländergesetzen selbst entlarvten, da taugt die Klammer eines europaweiten Antirassismus-Programms zur Denunziation freilich wenig. Mit aller Entschlossenheit wurden auch im vergangenen Jahr von Lissabon bis Kopenhagen Einwanderer in ihren Menschenrechten beschnitten. Ob nun das Aufenthaltsrecht in Italien verschärft wurde oder das Asylbewerberleistungsgesetz in der BRD - die Angriffe auf soziale und demokratische Grundrechte von MigrantInnen kamen direkt aus den Institutionen, europaweit.

Allein an der Koordination zwischen den nationalen Regierungen hapert es noch, derweil sich das Netzwerk der Institutionen nach unten durchsetzt. Längst eingebunden sind die nationalen Justizapparate, die parlamentarischen Menschenrechtsausschüsse und die Ministerialbürokratie; ihre supranationalen Pendants in Amsterdam, Strasbourg und Brüssel drücken da kaum mehr aus als die Summe der nationalen Interessen ihrer Mitglieder - und die sind allenthalben eurozentrisch.

Europäische Arithmetik in Sachen Migrationspolitik, da gilt die "antirassistische" Rechenart von 1997 auch für 1998: die europäischen Metropolen vor dem Ansturm aus der Peripherie schützen, die Festung ausbauen und die verbliebenen Fluchtbrücken aus dem Trikont einziehen. Entwicklungshilfe aus Europa erhält demnach diejenige afrikanische Regierung, die mithilft, das europäische Knastsystem zu entlasten, indem sie "ihre" Abschiebehäftlinge entgegennimmt - Prügel auf der Polizeiwache inklusive.

Der Euro-Kolonialismus von heute leistet sich lediglich modernere Verhandlungsmethoden als der alte, der Deal bleibt auch im Gewand des spektakulären Antirassismus von oben ein kolonialistischer: Geld kriegt nur, wer kollaboriert. Schließlich stehen die paar Millionen aus Brüssel für einige antirassistische Projekte in keinem Verhältnis zu den Summen, die allein für Abschiebeflüge in die Herkunftsländer der MigrantInnen ausgegeben werden. Immer öfter freilich geht es nicht dorthin zurück, sondern in "sichere Drittstaaten", eine juristische Konstruktion, die dem neuen Cordon Sanitaire entlang der EU-Außengrenzen die rechtsstaatliche Absolution erteilt. In den europäischen wie den nationalen Asylgesetzen verankert, gibt sie der Justiz das ideologische Futter zur Aufrechterhaltung der Wohlstandsgrenzen.

Die westliche Zivilisation zu verteidigen, wird zwischen Ijselmeer und Neiße ganz unverhohlen die "Festung Europa" als patriarchal und rassistisch abgestuftes europäischen Ausbeutungssystem ausgebaut - dazu gehört auch Einspeisung der produktivsten Jahre von MigrantInnen in den Verwertungsprozeß. Mit der Aufnahme Spaniens, Italiens und Österreichs in den Kreis der Unterzeichner des Schengen-Abkommens sind die Chancen, auch nur den Minimalkonsens einer liberalen staatlichen Migrationspolitik - eine Einwanderungsregelung - auf europäischer Ebene durchzusetzen, 1997 weiter geschwunden. Von einer Einigung in der bundesdeutschen Staatsbürgerschaftsdebatte gar nicht zu reden.

Aufschlußreich indes ist das "Europäische Jahr gegen Rassismus" in Hinblick auf die Diskriminierungsmaßnahmen in Deutschland, die in Bonn gleichermaßen von der Regierungskoalition wie von der SPD getragen werden. Die Weigerung der Bundesregierung, selbst Minimalanforderungen der an restriktiven Vorgaben nicht armen europäischen und UN-Flüchtlings- und Menschenrechtskataloge zu erfüllen, brachte ihr bereits im Januar eine Schelte des Europäischen Parlaments ein. Ausgerechnet der Schirmherr der deutschen Veranstaltungen, Innenminister Manfred Kanther (CDU), inszenierte den ersten Akt im Jahr des staatlich verordneten Antirassismus, der selbst die Straßburger Bürokraten aus den Sesseln riß.

Als die letzten Empörungsrufe über eine europäische Flüchtlingspolitik, die 80 Menschen in der Adria ertrinken ließ, verhallt waren, erließ Kanther eine Eilverodnung: Künftig werden auch Kinder von "Gastarbeitern" nur noch mit Visum aus dem Urlaub in die BRD zurückkehren können. Von den anfangs lautstark artikulierten Protesten der Sozialdemokraten, die Kanther-Verordnung gleiche einem "Amoklauf", blieb außer marginalen Veränderungen nichts übrig. Im März ging die Verordnung durch den SPD-dominierten Bundesrat. Rechtlich abgeschoben finden sich die türkischen, marokkanischen und jugoslawischen Jugendlichen nun in der Gruppe ihrer Altersgenossen aus über 120 anderen Ländern wieder, für die die Visumspflicht schon seit 1991 gilt. In einem zentralen Punkt ist die Kanther-Verordnung von neuer Qualität: Nicht Asylbewerbern galt der bürokratische Angriff, sondern ganzen Familien, die seit Generationen in der BRD leben.

Großkoalitionäres Aneinanderrücken in Sachen institutioneller Rassismus kennzeichnete auch die bundesdeutsche Algerienpolitik. Wo Frankreich längst eine großzügige Regelung für algerische Flüchtlinge verabschiedet hat, die der Verfolgung durch Islamisten und Geheimdienst ausgesetzt sind, beharrt selbst das rot-grün regierte Hessen auf der verstümmelten Version von Artikel 16: Einen Anspruch auf Asyl hat demnach nur, wer staatliche Verfolgung nachweisen kann. Religiöse oder frauenspezifische Verfolgungsgründe zählen nicht. Ergo schlossen sich auch die rot-grünen Bundesländer auf der Sonderkonferenz der Innenminister Ende November der Position von Bundesinnenminister Kanther an und verhinderten einen bundesweiten Abschiebestopp - obwohl sie in der Mehrheit waren.

Ein Abriß des staatlichen Rassismus 1997 kommt nicht um eine Erwähnung der leidigen Bosnien-Abschiebe-Debatte herum. Sinnvoller jedoch als den von unterschwellig bis offen rassistischen Statements durchzogenen Diskurs erneut aufzurollen, ist ein Blick auf das zur selben Zeit ausgehandelte "Rückführ"-Abkommen mit dem Nachbarland - den Abschiebepakt mit der Bundesrepublik Jugoslawien. Ausgehandelt wurde eine fixe Zahl von sogenannten Schüblingen jährlich, denen Belgrad Aufnahme-Garantien nach der Abschiebung zusichert. Im Gegenzug finanziert Bonn Wiedereingliederungsprogramme in Serbien und Montenegro. Das bundespolitisch Perfide an dem Deal: Die Aufteilung des Abschiebekontingents bleibt den Bundesländern überlassen. Wer schneller abschiebt, spart Geld für die Sozialhilfe an die Flüchtlinge. Als das Abkommen im Mai in Kraft trat, machte das von CDU und FDP regierte Baden-Württemberg innerhalb weniger Wochen das Kontingent gleich halb voll. Doch in den Top Five der Abschiebungen nach Bosnien freilich finden sich drei Länder mit SPD-Regierungsbeteiligung: Berlin, Hamburg und Nordrhein-Westfalen.

Die Änderung des Asylbewerberleistungsgesetzes schließlich brach einen weiteren Damm: Künftig erhalten Asylsuchende nur noch 80 Prozent der Sozialhilfe, die Bundesdeutschen zusteht. Neben der Demontage der demokratischen Grundrechte ist eben auch die Zerstörung sozialer Menschenrechte Teil des institutionellen Rassismus-Programms: zuerst der von MigrantInnen und anderer Randgruppen, weiterer Teile der Gesellschaft. Was das deutsche Ausländerrecht nach seiner weiteren Verschärfung Mitte 1997 noch an individuellen Sonderregelungen läßt - Verwaltungsgerichte und kommunale Ausländerbehörden beschränken es weiter. Ob es um die Verweigerung von Sozialhife an BosnierInnen in Berlin wegen ihres Duldungsstatus ging oder um den Abschiebebeschluß gegen einen in der BRD geborenen Türken - Justiz und Verwaltung setzen die Marken für neue Gesetzesänderungen und sabotieren im Kampf gegen legale und illegale Einwanderung den Rechtsstaat.

Nicht nur am Bonner Kabinettstisch wird an der Ausdehnung der 80-Prozent-Regelung auf "arbeitsunwillige" deutsche SozialhilfeempfängerInnen getüftelt. Bei der Beschneidung der Grundrechte für wenige mischt die SPD im Bund und den Ländern bereits kräftig mit - an das populistische Wahlkampfgetöse Gerhard Schröders und Henning Voscheraus sei erinnert -, bündnisgrüne Bürgermeister und Polizeipräsidenten sanktionierten ebenfalls die Kürzungen. Selbst wenn das "Europäische Jahr" nur weiteren Aufschluß über die Systematik des institutionellen Rassismus in der BRD gab, folgt daraus doch, daß der weiteren Einschränkung von Grundrechten im Wahljahr auch eine mögliche rot-grüne Koalition nicht im Wege stehen wird. Auch 1998 wird denen, die nach Europa wollen, der Dreiklang von Abschreckung, Abschottung und Abschiebung entgegenschallen, so sie es überhaupt noch über die Grenzen schaffen.