16. Der Unsichtbare

Fortgesetzte Erzählungen

Mein Vater hatte die tiefsten blauen Augen, die ich je gesehen habe. Nur seine Mutter hatte noch tiefere Augen, die jedoch schwarz waren. Er war ein überzeugter Atheist, ohne Sinn für Begriffe wie Familie, Vaterland, Geld und Ruhm, und ich glaube, daß er nach dem achtzehnten Lebensjahr keines seiner zwölf Geschwister wiedergesehen hat.

Nur seiner Mutter gelang es, ihn noch einmal nach Jutrosin zu locken, indem sie ihre Nachbarin bat, ihm ein Telegramm zu schicken, sie liege im Sterben.

Das muß 38/39 gewesen sein, denn das Jahr drauf war Krieg, und ich entsinne mich noch der schneeverwehten Gleise im Schlesischen Bahnhof und der Herdringe, mit denen meine Großmutter vergnügt klapperte, als wir an einem dunklen Wintermorgen ihre winzige Kochstube betraten.

Ich war fünf oder sechs Jahre alt, und nie wieder war es so dunkel wie damals in der Wasserpolackei.

Meine Mutter war eine zärtliche, lebenskluge Frau, eine echte Berliner Pflanze, die ihren drei Ehemännern blind ergeben war. Mich wusch sie einmal die Woche und hörte erst damit auf, als ich so alt war, daß ich Erektionen bekam, sobald ihre Hand mit dem Waschlappen meinen Unterleib berührte. Ich vermute, sie wusch mich, um Wasser zu sparen, denn wir mußten das kostbare Naß mit dem Eimer vom Brunnen holen und hinterher vor dem Haus in die Kantel kippen, aber vielleicht gab es andere Gründe.

Sie war üppig und sinnlich, litt in den schlechten Jahren darunter, daß es keine Kosmetika und keine Puccini-Platten gab und log nicht nur, wenn es zu ihrem Nutzen war, sondern weil die Wahrheit das war, was ihr gerade einfiel.

Mein Vater dagegen las viel und redete noch mehr, glaubte aber auch an Gespenster.

Er hatte in Kalisz gelernt wie man Matzen bäckt und sich eine gewisse Achtung vor der jüdischen Kultur bewahrt. Später hatte er in Berlin auf Anstreicher und Tapezierer umgeschult, in anarchistischen Zirkeln verkehrt, und oft, wenn ihm die Lesebrille die Nase runterrutschte und die Augen von ganz hinten über den Rand lugten, sah er wirklich so aus, als hätte er das zweite Gesicht.

Das erste, vordergründige, wirkte plebejisch-harmlos, war gebräunt von der Gartenarbeit, grobporig und zerfurcht und ohne Lichter hinter der verrutschten Brille. Das zweite, dahinterliegende, war unsichtbar bis auf die Luger, die skeptisch aus der Tiefe äugten. Mit ihnen, behauptete er, seien ihm gelegentlich richtige Voraussagen gelungen, auf die aber keiner gehört habe.

Ich glaubte jedoch nicht, daß er hellsehen konnte, denn vergeblich setzte er jede Woche viel Geld im Fußballtotto, was er sich so erklärte:

"Glück hat man nur in den Dingen, von denen man nichts versteht."

Er hatte in seiner Jugend das Straßenrennen Berlin-Cottbus-Berlin gewonnen (oder fast), beim Boxen fast alle Zähne verloren und war ein guter Ringer gewesen, doch warum er auch vom Fußball etwas verstehen wollte, habe ich nie verstanden.

Er starb 1973 an Leberzirrhose, und als meine Mutter ein Jahr später gründlich saubermachte, weil sie heiraten wollte (einen schweigsamen Schuster aus Goldap ohne Verstand und Phantasie), entdeckte sie hinter dem Sofa, auf dem mein Vater immer saß, wenn er Sportschau guckte, viele leere Schnapsflaschen, fast alles Nordhäuser Doppelkorn.

Unser letztes Gespräch betraf die Frage, ob sich das Leben gelohnt habe. Er sagte:

"Mich hat immer nur interessiert, wie das Leben funktioniert."

"Und weißt du's jetzt?"

"Natürlich nicht."

"Keine Erkenntnis?"

"Nur eine: Selbst die größten Philosophen verbreiten Platitüden."

Die früheste Erinnerung an ihn fällt auf meinen vierten Geburtstag, als ich nach einem Schädelbruch im Koma lag. An dem Tag öffneten sich meine Augen, und ich sah ihn umringt von Weißkitteln und erkannte ihn nicht. Ich hielt mich für tot und glaubte, er sei der liebe Gott im Kreise der Engel, denn er hatte einen üppigen Vollbart und blondes, lockiges Haar, bevor die Nazis ihm den Stahlhelm verpaßten.

Da drängte meine Mutter sich durch die himmlische Schar, trat an die Bahre, auf der ich, nur mit einem Hemdchen bekleidet, lag und küßte mich. Wie im Traum roch ich ihr süßes Parfüm und begann zu pinkeln. Hochauf schoß mein kräftiger Strahl, vollführte einen eleganten Bogen und landete direkt in der Tasche eines Weißkittels. So tief hat das Ereignis sich im Gedächtnis verankert, daß ich noch heute davon träume.

Ich liege mit nackten Unterleib auf einer fahrbaren Liege, gleite durch die Straßen, sehe die Menschen, die von den Fenstern und Balkonen zu mir herunterschauen und pinkele einen schönen Strahl in den Himmel über Berlin.

Zu meinen skurrilsten Erinnerungen gehört hingegen der Unsichtbare, den Max Klebe eines Tages bei sich hatte. Er sei nahezu körperlos, behauptete mein Vater, ein Schemen nur, gehe hinter Klebe her, verfolge ihn geradezu, springe jedoch wie ein Affe um ihn herum, um nicht gesehen zu werden, wenn Klebe sich umdrehe, als fürchte er, verfolgt zu werden, so daß dieser das schemenhafte Wesen auch dann nicht sehen könne, wenn er subjektiv dazu in der Lage wäre.

Ich nahm die Geschichte nicht ernst, hielt sie für eine der vielen Erfindungen, mit denen er uns Kinder verwirrte, seine Frau ärgerte oder langweilte und seine Mitmenschen dazu verleitete, ihn für einen Spinner zu halten, wenngleich einen harmlosen.

Max Klebe stand bei einem Mann, dessen Name nichts zur Sache tut, und drehte seelenruhig an dessen Knöpfen. Wir saßen auf der Außentreppe der Schule, mein Vater und ich, machten Frühstück und schauten zu. Der Mann trug eine halblange grüne Joppe mit zwei Reihen Knöpfe wie man sie damals hatte, die eine Reihe zum Knöpfen, die zweite zur Zierde, und betrachtete Klebes Hände, die solange drehten, bis der Zwirn durchgetrennt war und der Knopf sich löste.

Und wiewohl Klebes stiller Fleiß, der von einem ebenso ruhigen Gespräch untermalt wurde, den Mann zu irritieren schien, denn er konnte den Blick nicht wenden von Klebes knopfabdrehenden Händen, machte er keine Anstalten, ihn von seinem gedankenlosen Tun abzuhalten.

Das ging so an die zehn Minuten, dann war das Gespräch zu Ende. Klebe drückte dem Mann, noch immer in Gedanken, erst die Hand, dann, halb im Gehen, auch noch die Knöpfe in die Hand, und es war dies der Moment, den mein Vater später, als wir den Vorfall besprachen, als Beispiel für die affenartigen Fluchtbewegungen des Unsichtbaren erwähnte.

Der Mann stand noch da, betrachtete kopfschüttelnd die Knöpfe in seiner ausgestreckten Hand, als Klebe (den Unsichtbaren im Schlepptau) schon um die Einhornecke bog.

"Hast du ihn jetzt gesehen?" frug mein Vater.

"Wen?" frug ich schüchtern.

"Der Kerl, der bei ihm war. Er hat ihm fast in die Hacken getreten."

Ich spürte wie etwa zwölf Volt langsam über meine Hirnhaut krabbelten und der linke Nackenmuskel, der mir auch beim Gähnen immer wehtut, sich etwas verkrampfte, schüttelte jedoch tapfer den Kopf.

"Dummkopf", sagte mein Vater, und die Augen in seinem zweiten Gesicht blitzten spöttisch.

Ich hätte gerne gefragt, ob der Unsichtbare ein Toter sei, einer der Milliarden Toten zum Beispiel, die nur noch als Luftwesen existieren, und die Atmosphäre schon dermaßen angereichert hatten, daß man von dicker Luft und Umweltverschmutzung sprechen konnte, oder ein lebendiger Teil der Person, die ihn mit sich führte. Eine Art Schatten vielleicht. Das hätte seine Existenz etwas vereinfacht.

Aber auch das war mir zu riskant. Also ließ ich es lieber.

Die ersten 15 Erzählungen erschienen als Supplement in der Jungle World Nr. 52/1, 1997. In der nächsten Woche wird "Das Wespennest" mit der Folge 17, "Die Wiedergutmachung", fortgesetzt.