Sonntag, 30.06.2024 / 17:40 Uhr

Jesiden im Irak: "Nirgendwo eine Zukunft"

IDP Camp für Jesiden im Nordirak, Bild: Thomas v. der Osten-Sacken

Auf der letzten Innenministerkonferenz wurde kein Abschiebestopp für Jesiden in Deutschland erklärt. Derweil plant die irakische Zentralregierung die Camps für jesidische Binnenflüchtlinge zu schließen.

 

Zehn Jahre nach dem Völkermord durch den Islamischen Staat leben noch immer hunderttausende von Jesidinnen und Jesiden als Binnenvertriebene im kurdischen Nordirak. Nun plant die Regierung in Bagdad diese Lage zu schließen. Derweil schwindet die Unterstützung von Hilfsprojekten und auch in Europa droht Jesiden inzwischen Abschiebung. Über die Lage sprach Oliver M. Piecha mit der jesidischen Aktivistin und Mitarbeiterin der Hilfsorganisation. Basma Aldikhi

 

Basma Aldikhi, Bild: privat

Kannst du kurz die Schwerpunkte deiner Arbeit schildern? Zehn Jahre nach dem Völkermord lebt ein Großteil der vertriebenen Jesiden immer noch in Camps. Wie hat sich die soziale Arbeit mit den Menschen über die Jahre verändert? Was sind die Hauptprobleme heute?

Basma: Unsere Arbeitsbedingungen haben sich leider sehr verschlechtert. Anfangs gab es viel Unterstützung von Hilfsorganisationen und der Bevölkerung hier im Nordirak. Es gab genügend Nahrungsmittel zur Versorgung der Menschen in den Camps, für die Kinder gab es Unterricht und Freizeitaktivitäten, sowie psychologische Unterstützung, um Traumata zu verarbeiten. Wir reden hier von einem Genozid, bei dem Menschen Schreckliches erlebt haben, viele Frauen wurden vergewaltigt und misshandelt. Mittlerweile bekommen wir jedoch viel weniger Unterstützung. Die Hilfsorganisationen haben sich anderen Krisenherden zugewandt, und sind etwa in die Ukraine abgezogen. Mit Wadi arbeiten in sechs verschiedenen Camps. Und es kommen Mütter zu mir, die sagen, sie haben kein Essen für ihre Kinder oder ihr Kind braucht Medizin, die wir nicht bereitstellen können. Diese Lage ist für uns Helfende selbst sehr schwierig.

Mittlerweile wächst eine erste Generation heran, die in Camps großgeworden ist und kein anderes Leben kennt. Wie verändert das dauerhafte Leben in Camps die Menschen?

Basma: Wenn du die Kinder fragst, woher sie kommen, antworten sie, aus dem Camp Sharja oder Qadia. Sie wissen also gar nicht, woher sie stammen. Die Herkunft aus dem Camp, das ist ihre Identität. 

Es sieht auch nicht danach aus, als würde es irgendwo für uns Jesiden eine Zukunft geben. Uns wird kaum noch Aufmerksamkeit geschenkt.

Die Menschen in den Camps haben das Gefühl, dass sie von überall vertrieben werden, und weder von Kurdistan noch vom Irak akzeptiert werden. Die Kinder im Camp haben kein Zuhause, um die Tür hinter sich zu schließen, weil sie in Zelten leben. Der Schulunterricht ist bereits gekürzt, und eine Klasse besteht aus 65 Schülern, wobei eine Lehrerin für alles verantwortlich ist. Es ist so kaum möglich, die Kinder richtig zu unterrichten und ihnen etwas beizubringen.

Die Camps mit den Jesiden sollen nach dem Willen der irakischen Zentralregierung wie alle anderen IDP-Lager aufgelöst werden – schon im Sommer 2024. Was sagen die Betroffenen dazu? Was erwarten die Menschen, was nun passieren wird? Sind in ihren Augen die Versprechungen der Regierung – Hilfe bei der Rücksiedlung in das Gebiet des Sinjar, Häuserbau und Unterstützung dort – realistisch?

Basma: Diese Entscheidung ist für die Menschen in den Camps sehr hart und traurig. Ihre Dörfer liegen in Schutt und Asche, es gibt dort kein Zuhause mehr, in das sie zurückkehren können. Sie sagen, hier in den Camps haben wir zumindest ein Zelt, in dem unsere Kinder unterkommen. Hier gibt es zumindest etwas Unterstützung von Hilfsorganisationen, in Sinjar, wohin wir zurück sollen, gibt es das nicht. So gerne die Menschen auch in ihrer Heimat zurückkehren möchten, ist es für sie immer noch die bessere Wahl, in den Camps zu bleiben. Die Versprechungen der Regierung helfen den Menschen nicht. 

(Bild: Jesidische Schüler demonstrieren gegen die drohende Schließung ihrer Schule im Khanke Camp)

 

Wie tief geht der Bruch von 2014, dem Jahr des Überfalls des IS? Wenn es kein Zurück in die Vergangenheit gibt, wohin geht der Weg für die Jesiden? Wo liegt ihre Zukunft? Im Irak, in Deutschland? Über den Globus verstreut? Was sagen die Jesiden in den Camps oder im Sinjar? 

Basma: Nach diesen Gräueltaten gibt es kein Zurück mehr für die Menschen. Zu viele wurden getötet, misshandelt und vergewaltigt. Aktuell sind immer noch viele Frauen in Gefangenschaft des IS. Die Vorstellung, wieder ein normales Leben zu führen, ist so nicht möglich. Es sieht auch nicht danach aus, als würde es irgendwo für uns Jesiden eine Zukunft geben. Uns wird kaum noch Aufmerksamkeit geschenkt, ganz im Gegenteil, wir werden nun aus unseren Zufluchtsorten vertrieben.

Wie ergeht es erzwungenen Rückkehrer aus Deutschland? Was ist deren Perspektive im Irak? Inwieweit sind die Diskussionen in Deutschland über Abschiebungen Thema bei der jesidischen Gemeinschaft im Irak?

Basma: Vor wenigen Wochen erlitt einer hier einen Schlaganfall am Flughafen, nachdem er angekommen war. Er konnte es nicht fassen, dass er abgeschoben worden war. Er wusste nicht, wohin er hier sollte. In sein Heimatdorf konnte er nicht zurück. Er hat das alles nicht ertragen. Insgesamt verstehen die Menschen nicht, wie es sein kann, dass sie gezwungen werden, zurückzukehren. Auch wenn es Orte in Sinjar gibt, wo gerade nicht gekämpft wird, gibt es dort nirgends eine Garantie für Sicherheit. Die Menschen fürchten außerdem, dass die Islamisten zurückkehren können, die gibt es ja immer noch, sie haben sich nur versteckt. Abgesehen davon wurde alles zerstört, was die Menschen einmal besessen haben. Wohin genau sollen sie denn zurückkehren? 

Welche Rolle spielt „Deutschland“ für die jesidische Gemeinschaft?

Basma: Zu Anfang des Genozids waren die Hilfsorganisationen aus Deutschland die ersten, die uns zu Hilfe gekommen sind. Und Deutschland hat den Angriff des Islamischen Staates auf uns Jesiden als Genozid anerkannt. Die Menschen nannten Deutschland das zweite Sinjar, weil dort so viele Jesiden aufgenommen wurden und man uns von dort so unterstützt hat. Die jetzige Entscheidung, Jesiden in den Irak abzuschieben, trifft die Menschen umso härter. Auf ihrem Weg nach Deutschland sind Jesiden umgekommen, sie sind ertrunken, viele Kinder sind durch Kälte und Hunger gestorben, bevor sie Deutschland erreichen konnten. Nun fühlen sich die Jesiden erneut aus ihrem Zuhause vertrieben, in dem sie sich sicher gefühlt haben. Leider ist das der jetzige Eindruck, der bei den Menschen herrscht. 
 

Das Interview hat Karzan Abdullah übersetzt.