Montag, 22.07.2024 / 21:29 Uhr

Jesiden im Irak: Kein Weg zurück

Die vom IS zerstörte Hauptstadt des Sinjar, Bild: Levi Clancy, Wikimedia Commons

Ende Juli will die irakische Regierung die Unterstützung der jesidischen Camps im Norden des Landes einstellen, derweil wird aus Deutschland weiter abgeschoben,

Die irakische Zentralregierung will mit ihrer Ankündigung ernst machen und ab Ende Juli alle Unterstützung für die Camps in Irakisch-Kurdistan einstellen. Damit versucht sie, Jesidinnen und Jesiden in den Sinjar, ihr Herkunftsgebiet, das 2014 vom Islamischen Staat erobert und zerstört wurde, zurück zu zwingen. Betroffen sind von den Maßnahmen geschätzte 300.000 Menschen. Nur: Der Sinjar ist weiter umkämpftes und keineswegs sicheres Gebiet und eine ökonomische Perspektive für so viele Menschen hat er auch nicht zu bieten.

Kurzum: Eigentlich gibt es nach dem Völkermord keinen Weg zurück. So heißt auch der Titel eines Artikels, den Oliver M. Piecha für das iz3w in einer Schwerpunktausgabe "Genozide" geschrieben hat. Hier einige Auszüge:

Im Juli 2024 sollen nun nach dem Willen der irakischen Zentralregierung die verbliebenen Lager für IDPs (Binnenflüchtlinge) in der kurdischen Autonomiezone geschlossen werden sowie die anderen entsprechenden Lager im Irak bereits in den letzten Jahren. Das ist im Grunde auch keine schlechte Idee und ein wichtiger Schritt hin zu einer Normalisierung, wenn denn die Menschen nur dorthin zurückkehren könnten, von wo sie einmal fliehen mussten. Und das zu erträglichen Bedingungen, was neben einer funktionierenden Infrastruktur, vorhandenen Verdienstmöglichkeiten, geräumten Minen und reparierten Häusern vor allem eines bedeutet: Die Gewährleistung von Sicherheit. Und die ist im Sinjar für die Jesiden nach wie vor nicht gewährleistet. Ihr Siedlungsgebiet steht im strategischen Fokus diverser regionaler und überregionaler Akteure. Es ist so viel einfacher, Menschen zu vertreiben und umzubringen, als eine zerstörte Landschaft wiederaufzubauen.

Den genozidalen Erfolg des IS kann man auch an der jesidischen Migrationsgeschichte ablesen: In der Bundesrepublik leben nach dem Nordirak mittlerweile die meisten Jesiden weltweit. Diese Entwicklung hat der IS allerdings nur dramatisch beschleunigt, Jesiden werden in der Region seit langem drangsaliert und massenhaft ermordet, aus ihren Siedlungsgebieten in Syrien und der Türkei sind sie meist schon ganz verschwunden. In ihrer Überlieferung zählt die jesidische Gemeinschaft 74 Angriffe und Massaker, der Völkermord des IS steht so am bisherigen Ende einer langen, düsteren Geschichte extrem brutaler, religiös begründeter Verfolgung. Der Genozid kam nicht aus heiterem Himmel. (...)

Der Sinjar gehört zu den sogenannten »umstrittenen Gebieten«, die sich geographisch als Streifen entlang der innerirakischen Grenze der kurdischen Autonomiezone bis in den äußersten Nordwesten des Landes nach Shingal/Sinjar entlangziehen. Sie werden von kurdischer Seite beansprucht, unterstehen aber der Regierung in Bagdad. Die umstrittenen Gebiete zeichnen sich durch einen explosiven Mix aus und stellen ein grundlegendes Problem für die Stabilität des Irak dar. Hier treffen Minderheiten aufeinander, die religiöse oder ethnische Dominanz kann sich von Ansiedlung zu Ansiedlung ändern. In den letzten Jahrzehnten gab es zahlreiche Vertreibungen und Umsiedlungen und immer wieder wurde versucht, die Zusammensetzung der Bevölkerung gezielt zu verändern. Die Situation ist gekennzeichnet durch tendenziell schwache staatliche Instanzen und die Präsenz diverser Milizen und bewaffneter Gruppen. An der Oberfläche hat sich die Situation seit dem Sieg über den IS beruhigt, aber ein unsichtbares Netz von Gewalt liegt über dem Land.


Für die Frage einer Rückkehr der Jesiden sind vor allem zwei Faktoren zentral: Der IS hat sich auch aus ortsansässigen Muslimen rekrutiert, die Täter waren manchmal Nachbarn. So liegen die Orte, in die bisher Jesiden zurückgekehrt sind, am weitesten von den arabischen Dörfern entfernt. Der Sinjar hat sich außerdem zu einem strategisch hochumstrittenen Gebiet entwickelt, nicht zuletzt durch die Anwesenheit der PKK beziehungsweise ihrer regionalen Filialgründungen. Die kurdischen Kämpfer aus Syrien haben im August 2014 die Flucht der Jesiden ermöglicht und im Sinjar gegen den IS gekämpft. Nun zieht ihre weitere Anwesenheit im Sinjargebiet die dortige Bevölkerung in den Konflikt zwischen PKK und der Türkei mit hinein. Für die Wiederherstellung einer wirklichen und nicht nur nominellen irakisch-staatlichen Souveränität über das Gebiet ist die Präsenz der PKK ein Hindernis. Auch der Iran und die teilweise mit ihm eng verbandelten irakischen »Volksmobilisierungseinheiten« (zu denen auch Milizgruppen aus dem PKK-Umfeld gehören) haben im Sinjar strategische Interessen. Solange sich die Situation in der Großregion inklusive Syriens nicht grundlegend ändert, wird das auch so bleiben. Der Genozid des IS hat im Sinjar eine Welt zerstört und das Feld für weitere machtpolitische Auseinandersetzungen eröffnet.