Samstag, 23.07.2022 / 13:06 Uhr

Tunesien: "Situation sehr besorgniserregend"

Von
Aus dem Netz

Errungenschaften der Revolution in Gefahr, Demonstration in Tunis 2011, Bild: Thomas v. der Osten-Sacken

Für Qantara interviewte Claudia Mende die tunesische Frauenrechtlerin Yosra Frawes über das für den 25. Juli anberaumte Referendum in ihrem Land:

Frau Frawes, wie schätzen Sie die Situation vor dem Referendum am 25. Juli ein?

Yosra Frawes: Die Situation ist sehr besorgniserregend für alle Tunesierinnen und Tunesier, die auf einen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Wandel in ihrem Land hofften und denen langsam bewusst wird, dass die Politik seit dem 25.  Juli 2021 nichts mehr zu diesen Hoffnungen beiträgt. Die neue Verfassung ist gefährlich, weil sie die Möglichkeit einer Rückkehr zur Diktatur eröffnet.

Der Textentwurf öffnet die Türen zu einer Islamisierung der Gesellschaft und des tunesischen Staates.

Die Verfassung von 2014 hatte eine große Bandbreite an freiheitlichen Bürgerrechten verankert und enthält auch Garantien für ihre Einhaltung. Heute ist das alles in Gefahr, denn die neue Verfassung wurde einseitig vom Präsidenten erarbeitet. Es wurde zwar der Anschein eines nationalen Dialogs erweckt, aber dieser Anschein trügt. Auch die Änderungen, die er am 8. Juli vorgelegt hat, kamen ohne Konsultation zustande und gehen nicht auf Kritik an seiner Vorlage ein.

Was genau macht die neue Verfassung gefährlich?

Frawes: Bedenklich ist etwa jene Passage in Artikel 5, wonach der Staat  "auf ein Erreichen der Ziele des Islam" hinarbeiten müsse,  ("les objectifs de l’islam“, arab. Makassed). Das könnte so interpretiert werden, dass die universellen Freiheits- und Bürgerrechte einzuschränken sind - also auch die Frauenrechte.

Mit dieser Passage in der Verfassung wäre es möglich, Gesetze neu zu bewerten und nach den neuen Vorgaben umzuschreiben. Außerdem öffnet die neue Verfassung die Tür zu einer Rückkehr zu den Verhältnissen von vor 2011, zu einem Präsidialsystem. Die Institutionen, v.a. das Parlament und das Richteramt werden geschwächt, der Präsident wird zur obersten Kraft im Land und ist den Wählern gegenüber nicht mehr verantwortlich, er steht über jeder Form von Rechenschaft. Zu seinen Vorrechten gehört dann etwa, dass er allein die Mitglieder des Verfassungsgerichts ernennen darf. Die demokratischen Institutionen werden innerlich ausgehöhlt. Diese neue Verfassung würde internationalen Standards für Rechtsstaatlichkeit nicht mehr genügen.

Der Textentwurf öffnet die Türen zu einer Islamisierung der Gesellschaft und des tunesischen Staates, das wäre ein Rückfall hinter alle Errungenschaften der Tunesier seit der Unabhängigkeit. Und er öffnet die Tür zu einer neuen Diktatur.