Gräben so tief wie die Ostsee
Den immer wieder von der nationalkonservativen Partei Prawo i Sprawiedliwość (Recht und Gerechtigkeit, PiS) erhobenen Vorwurf, allzu »deutschlandfreundlich« zu sein, hat sich der polnische Ministerpräsident Donald Tusk von der liberal-konservativen Koalicja Obywatelska (Bürgerkoalition, KO) wohl erst mal vom Hals geschafft. Am 17. August legte er auf X den »Initiatoren und Schirmherren« der Nord-Stream-Pipelines nahe, sich für ihre Unterstützung des Projekts zu entschuldigen und ansonsten zu schweigen. Er reagierte damit auf von internationalen und besonders auch deutschen Medien verbreitete Informationen, die beiden Pipelines, die einst Gas von Russland über den Ostseeboden nach Deutschland transportierten beziehungsweise transportieren sollten, seien von der Ukraine mit Billigung oder gar Unterstützung Polens sabotiert worden.
Der sonst eher diplomatische Tusk schlug damit einen Ton an, der sonst eher für seinen zur Polemik tendierenden Außenminister, Radosław Sikorski (KO), typisch ist. Bereits 2006, als Sikorski noch parteiloser Verteidigungsminister der ersten von PiS geführten Regierung Polens war, hatte dieser verkündet, das damals geplante Nord-Stream-Projekt erinnere an den Molotow-Ribbentrop-Pakt, in dem Nazi-Deutschland und die stalinistische Sowjetunion Polen und weitere Gebiete Ostmitteleuropas zwischen sich aufgeteilt hatten.
Polens Ministerpräsident Donald Tusk legt den »Initiatoren und Schirmherren« von Nord Stream nahe, sich für die Unterstützung des Projekts zu entschuldigen und ansonsten zu schweigen.
Tusk erhielt für seine scharfe Äußerung Applaus aus beinahe allen politischen Lagern. Der dem PiS-nahen Staatspräsidenten Andrzej Duda unterstehende Leiter der polnischen Regierungsbehörde Nationales Sicherheitsbüro, Jacek Siewiera, kommentierte unter Tusks Post bei X, dass es in Polen einen »steinharten Konsens« in der Haltung zu Nord Stream gebe. Und auch der stellvertretende Ministerpräsident Krzysztof Gawkowski von der sozialdemokratischen Partei Nowa Lewica (Neue Linke) tat die Vorwürfe einer polnischen Beteiligung oder Bewilligung des Sabotageakts als »russische Desinformation« ab. Zu beachten ist bei alledem, dass Tusk lediglich auf Medienberichterstattung in den USA und Deutschland reagierte und nicht etwa auf eine Äußerung deutscher Regierungsmitglieder, die bisher in dieser Angelegenheit Zurückhaltung haben walten lassen.
Bei dem Sabotageakt am 26. September 2022 wurden drei der vier Rohre der Ostseepipelines Nord Stream I und II beschädigt. Als Urheber wurden zunächst die USA oder Russland verdächtigt, Ermittlungen der deutschen Bundesanwaltschaft zielten aber bald auf Verdächtige aus der Ukraine. Am 14. August veröffentlichten sowohl das Wall Street Journal als auch ein deutscher Rechercheverbund aus ARD, Die Zeit und Süddeutscher Zeitung (SZ) neue Indizien, welche auf folgenden Tathergang hindeuten: Eine Gruppe Ukrainer:innen habe im September 2022 mit Hilfe einer in Polen angesiedelten Briefkastenfirma eine Jacht geleast. Die mitreisenden professionellen Taucher:innen hätten in der Nähe der dänischen Insel Bornholm in etwa 80 Metern Tiefe Sprengsätze an den Gasleitungen angebracht.
Während das Wall Street Journal die Ereignisse auf Basis der Aussagen von ukrainischen Informant:innen als erwiesen darstellt und die Beteiligung der ukrainischen Armeeführung und sogar des Präsidenten behauptet, formulieren die deutschen Journalist:innen vorsichtiger und betonen, sie hätten keine Hinweise auf eine direkte Beteiligung ukrainischer staatlicher Stellen gefunden.
»Polen packte nicht zu«
Deutlicher wird der Rechercheteam allerdings in Bezug auf den Fahndungsstand. Mindestens einer der Verdächtigen habe sich nach der Tat in Polen niedergelassen. Die deutsche Generalstaatsanwaltschaft habe Ende Juni einen Europäischen Haftbefehl gegen ihn erlassen und diesen an die polnische Staatsanwaltschaft weitergeleitet. Kurze Zeit später habe der Tatverdächtige jedoch die polnisch-ukrainische Grenze übertreten, ohne vom Grenzschutz daran gehindert zu werden. Das Recherchekollektiv zitiert Mitarbeiter:innen deutscher Ermittlungsbehörden, die ihren polnischen Pendants mangelnden Kooperationswillen vorwerfen, und die SZ wird sehr deutlich, wenn sie schreibt: »Doch Polen, wo der Verdächtige lebte, packte nicht zu.«
Noch weiter geht die Kritik an den polnischen Behörden, die August Hanning, ein ehemaliger Präsident des Bundesnachrichtendiensts, am Tag nach der Publikation im Interview mit dem Sender Welt TV äußerte. Er wirft den polnischen Behörden nicht nur vor, die Ermittlungen behindert zu haben, sondern spricht bei dem Sabotageakt von ukrainischem »Staatsterrorismus« und behauptet, es habe dafür eine Verabredung zwischen dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj und Duda gegeben.
Debatte über Deutschlands Nähe zu Russland
Nicht nur polnische Politiker:innen reagierten scharf auf diese Vorwürfe. Die polnische Generalstaatsanwaltschaft bestätigte zwar, dass sie den Haftbefehl aus Deutschland erhalten habe, betont jedoch, dass die deutschen Behörden diesen nicht in das europäische Fahndungsregister eingetragen hätten, so dass der Verdächtige die Grenze problemlos habe überschreiten können. Auch polnische Kommentator:innen, von der konservativen Zeitung Rzeczpospolita bis zur liberalen Gazeta Wyborcza, empörten sich über das »antipolnische Narrativ in den deutschen Medien«, wie Letztere schreibt. Besonders die Glaubwürdigkeit Hannings wird in Zweifel gezogen, habe dieser sein Amt doch unter dem deutschen Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) ausgeübt, der ein bekennender Freund des russischen Präsidenten Wladimir Putin ist.
Weitere Entwicklungen befeuern in Polen die Debatte über Deutschlands Nähe zu Russland: Im EU-Parlament hat sich eine neue, von der AfD dominierte Fraktion gebildet, Europa der Souveränen Nationen (ESN), an der auch drei Abgeordnete der rechtsextremen polnischen Partei
Konfederacja beteiligt sind; auch die Gründung einer europäischen Partei ist geplant. Zudem haben die hohen Umfragewerte von AfD und BSW in den östlichen Bundesländern den Verbindungen deutscher Rechtsextremer mit Russland neue Aufmerksamkeit verschafft.