Ein Retreat in der Gedenkstätte Ravensbrück will dem KZ-System etwas Spirituelles abgewinnen

Das erschlichene gute Gewissen

Eine Veranstaltung in der Gedenkstätte Ravensbrück für »alle Frauen und Menschen, die trans, inter oder nicht-binär sind«, will der Beschäftigung mit dem mörderischen KZ-System eine spirituelle Dimension abgewinnen. Dies läuft nicht nur jeder aufklärerischen Form der Museums- und Gedenkstättenpädagogik zuwider, sondern leistet auch einer Opferparzellierung Vorschub, ganz so, als hätten die Nazis schlichtweg diverse »Minoritäten« auslöschen wollen. Über eine neue Geschmacklosigkeit der deutschen Gedenkstättenindu­strie.

»Ich denke (…) an schwarze Steine, Erinnerungen, Vorstellungen, an Gut und Böse und die Frage, ob es das gibt. Aber auch an die seltsame Geborgenheit, an das intensive Gruppengefühl, an Vertrauen, an Worte ohne Worte und an Verstehen.« Dieser schaurig-wohlige Bericht stammt nicht von dem Absolventen eines spirituellen Trauerbegleitungs-­Coachings, sondern von einer Teilnehmerin des »Ravensbrück Retreat für Frauen (*) 2024«, das vom 15. bis zum 17. Mai auf dem Gelände des ehe­maligen Frauenkonzentrationslagers stattfand. Inspiriert worden ist es durch die »Auschwitz-Retreats« der buddhistischen Sekte der Zen Peacemakers von Bernie Glassman, der Anhänger seiner Gruppe zwecks Selbstfindung alljährlich an »Schmerzens­orten« wie dem Ankunftsgleis des ehemaligen Konzentrationslagers Auschwitz versammelt hat.

In der Selbstdarstellung der Veranstalter erscheint das Frauenkonzentrationslager wie ein »melting pot« unterschiedlicher Kulturen.

Glassman wurde 1939 als Sohn einer jüdischen Familie in New York City geboren, verbrachte einen Teil seiner Jugend in einem israelischen Kibbuz und war in frühen Jahren von der zionistisch-sozialistischen Siedlerbewegung beeinflusst, wandte sich aber später dem Buddhismus zu. Er verstand sich als sozial engagierter Zen-Lehrer, versorgte, unterstützt von Sozialhelfern, New Yorker Obdachlose und trug durch »interreligiöse Straßenexerzitien«, bei denen er mit Muslimen und Christen Meditationen unter freiem Himmel abhielt, aber auch in Form von Straßentheater und Clownsspielen, seine Überzeugung von einer Harmonie aller Religionen in die Öffentlichkeit. Seine Lehre hat der 2018 verstorbene Glassman in seinem Buch »Zeugnis ablegen. Buddhismus als engagiertes Leben« zusammengefasst.

Verlieh Glassman seinen Meditationen durch Kombination von Clownsnase und Predigergewand mit der Situierung seiner Veranstaltungen an unpassenden Orten ein Moment des Brüchigen und Grotesken, wird in den Angeboten des »Ravensbrück Retreat«, über dessen Aktivitäten man sich auf der Website der Veranstalter informieren kann, auf den Widerspruch zwischen Gegenstand und Ort nicht reflektiert; was bei Glassman als befremdlich wahrgenommen werden sollte, gerät hier zur kitschigen Geschmacklosigkeit. Befördert wird das durch die Gender- und Achtsamkeitssoße, die über jeden Satz gegossen wird.

Königsweg zur Erleuchtung

Eine weitere Teilnehmerin – mitmachen durften »alle Frauen und Menschen, die trans, inter oder nicht-binär sind, unabhängig von religiösem Hintergrund« – schwärmt in ihrem Erlebnisbericht: »Ich freue mich immer noch auf ­stille Weise über die farbenfrohen Blumen im Krematorium und die Tara-Mantras, denen dort nistende Vögel lauschten.« Die Selbstdarstellung des Retreat feiert erfüllte Sprachlosigkeit und selbstfindlerischen Erfahrungshunger als Königsweg zu einer Erleuchtung, der nur der existentiell Geworfene an Orten namenlosen Grauens teilhaftig werden kann: »Bei dem Retreat wird es weniger dar­um gehen, Antworten zu geben, als vielmehr, den Fragen in ihrer Vielschichtigkeit nachzugehen und uns ihnen auszusetzen. Wir werden uns mit dem konfrontieren, was uns Angst macht und was wir sonst wegschieben und verdrängen.«

Die Teilnahme (Gebühr: 100 Euro, Übernachtung und Verpflegung: 144 Euro) kann als Bildungsurlaub abgerechnet werden, wohl deshalb, weil die Veranstaltung den in Zeiten postkolonialer Dekonstruktion beliebten Mythos bedient, den Nationalsozialisten sei es weniger um die Vernichtung des als »Gegenrasse« halluzinierten »Weltjudentums« gegangen als um die Ermordung diverser partikularer Minoritäten, die präzise addiert werden müssen, um ­allen Opfergruppen gerecht zu werden.

In der Selbstdarstellung der Veranstalter erscheint das Frauenkonzentrationslager wie ein melting pot unterschiedlicher Kulturen: »Die nach Ravensbrück deportierten Frauen stammten aus über 40 Nationen. Die dort Inhaftierten waren politisch aktiv und im Widerstand, hatten sich als Künstlerinnen, Poli­tikerinnen, Schriftstellerinnen be­tätigt, es waren Zeuginnen Jehovas,­ Jüdinnen, Sinti*zze und Rom*nja.« Trotz ihrer formalen Korrektheit ist diese Darstellung verzerrend, weil die gegenderte Suggestion von Diversität das Verhältnis von Allgemeinem und Besonderem, totalem Vernichtungswunsch und administrativer Partikularisierung der zu Gattungsexemplaren erniedrigten Individuen, in ein falsches Licht rückt.

Das Streben nach durch Tilgung der »Gegenrasse« hergestellter Homogenität erwies sich als identisch mit dem Wunsch nach form-, zweck- und sinnloser Heterogenität, totale Herrschaft verschmolz mit totaler ­Willkür.

Dass es in Ravensbrück ein für weibliche Häftlinge errichtetes Konzentrationslager gab, gründet ähnlich wie die farblich und ikonisch unterschiedenen Kennzeichnungen für jüdische, homosexuelle, »asoziale« und andere Internierte auf einer für den Nationalsozialismus charakteristischen Verschmelzung von Perversion und Verwaltung, totalisiertem Wahn und spezialistischer Obsession. Dem nationalsozialistischen Vernichtungsstreben ging es nicht allein um die »restlose Erfassung« (Götz Aly/Karl Heinz Roth) der dem Tod Bestimmten, sondern zugleich gemäß der infamen Parole »Jedem das Seine« um die mit jener Erfassung konvergierende Parzellierung und Absonderung der atomisierten Einzelnen: Totaler Staat und Unstaat fielen in eins, der Staat, der noch den intimsten Winkel der Gesellschaft erfasste und umformte, war die organisierte Entgesellschaftlichung und Asozialität. Das Streben nach durch Tilgung der »Gegenrasse« hergestellter Homogenität erwies sich als identisch mit dem Wunsch nach form-, zweck- und sinnloser Heterogenität, totale Herrschaft verschmolz mit totaler ­Willkür.

Statt zur Erkenntnis solcher Irrenlogik beizutragen, wiederholt das »Ravensbrück Retreat« sie in gutmenschlicher Absicht, indem das dort Geschehene einerseits als Akt gegen eine diffuse Menschlichkeit, anderseits als Aggression gegen diverse partikulare Gruppen aufgefasst wird.

Historische Erfahrung wird neutralisiert

Einerseits wird unter der Überschrift »Erinnerungskultur wachhalten« geraunt: »Wie die Sprachlosigkeit überwinden angesichts der unvorstellbaren Grausamkeiten, die Menschen anderen Menschen angetan haben?« Andererseits wird die falsch gestellte Frage nach dem Allgemeinmensch­lichen falsch partikular, mit Blick auf das vermeintlich besondere Weibliche, beantwortet: »Wenn wir unserer weiblichen Vorfahren gedenken, ­machen wir uns damit vertraut, dass wir in einer Linie von Frauen stehen. Wir werden uns unserer Vielfalt bewusst durch die unterschiedlichen Rollenbilder im eigenen Geschlecht.«

Die historische Erfahrung, die es zu erinnern gälte, wird neutralisiert durch Beschwörung einer Vielfalt, die in Wahrheit eine Deckphantasie für die vernichtete Individualität ist: Wer nur »Menschen« kennt, die »anderen Menschen« etwas antun, was genauer zu benennen vermieden wird, der kann sich als Gegenbild zu solcher Bestialität nur eine gestalt­lose Vielfalt, ein scheinkonkretes »Wir« vorstellen, das die Geschichtslosigkeit dessen, was man im Begriff der Menschen beschwört, schlicht wiederholt.

Wohl um die Leere solch autosuggestiver Selbstbesinnung zu verleugnen, trifft man sich »täglich zu Kreisgesprächen«, wobei Sprechen nicht das Wichtigste ist: »Das Re­treat findet teilweise im Schweigen statt.« Das ergriffen-achtsame Schweigen woker Nachgeborener unterscheidet sich vom Schweigen der Täter und Mitmacher durch das erschlichene gute Gewissen.