Linke Demonstrationen am »Nakba-Tag« in Griechenland

Gemeinsam im Befreiungskampf

Zum »Nakba-Tag« in Athen demonstrierten verschiedenste Strömungen der griechischen Linken ihren Hass auf Israel. Die pflegt traditionell enge Beziehungen zur Palästinensischen Befreiungsorganisation.

Es gab kaum einen Aufschrei linker und kommunistischer Parteien in Griechenland. Kein Solidaritätsaufruf für die Freilassung der Entführten oder zur Unterstützung der Opfer war zu vernehmen nach den bestialischen Morden, Vergewaltigungen und Entführungen von Hamas, Islamischem Jihad und anderen palästinensischen Organisationen in Israel am 7. Oktober 2023. Auch aus der außerparlamentarischen Linken, den linksradikalen, anarchistischen und queerfeministischen Organisationen verurteilte kein Flugblatt das Massaker, keine Solidaritätserklärung bezeugte Mitgefühl mit den Opfern und ihren Angehörigen. In privaten Gesprächen und Diskussionen distanzierten sich anarchistische und ander­weitig linke Genoss:innen zwar von der islamistischen Hamas, allerdings nur um im nächsten Satz darauf hinzuweisen, dass »Widerstand« gerechtfertigt sei, oder die Frage aufzuwerfen, ob nicht der Mossad die Finger im Spiel gehabt habe.

Seit dem Beginn der Bombardierungen der israelischen Armee im Gaza-Streifen, der Eskalation des Kriegs gegen die Hamas und den Tausenden ziviler palästinensischer Opfer wird der 7. Oktober im besten Fall gar nicht mehr ­erwähnt oder noch mehr als zuvor zum heroischen Befreiungsakt uminterpretiert. Die weiterhin von der Hamas gefangen gehaltenen israelischen Geiseln werden seitdem komplett verschwiegen. In keinem einzigen Aufruf zu den Solidaritätsdemonstrationen am »Nakba-Gedenktag« wurden sie auch nur erwähnt. Unter dem Begriff Nakba (Katastrophe) wird jedes Jahr am 15. Mai an die Flucht Hunderttausender Palästinenser:innen infolge des ersten arabischen Kriegs gegen Israel im Jahr 1948 erinnert.

Traditionell pflegt die griechische Linke enge Beziehungen zur Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO). Radikale Linke und anarchistische Organisationen bezogen sich in der Vergangenheit meist auf die marxistisch-leninistische Volksfront zur Befreiung Palästinas (PFLP), nach der Fatah die zweitgrößte Organisation innerhalb der PLO. Insbesondere der Gründer der sozialdemokratischen Pasok und spätere Ministerpräsident Griechenlands, Andreas Papandréou (1981–1989 und 1993–1996), bezeichnete sich als poli­tischen und persönlichen Freund des PLO-Führers Yassir Arafat. Dieser hatte der von Papandréou zuvor im Exil ­gegründeten Panhellenischen Befreiungsbewegung (PAK) während der ­Militärdiktatur in Griechenland von 1967 bis 1974 die Unterstützung der PLO zugesagt.

 Die Demoaufrufe richteten sich gegen den »Völkermord am palästinensischen Volk« durch den »faschistischen Mörderstaat Israel«

Papandréou revanchierte sich nach dem für Israel siegreichen Ende des ersten Libanon-Kriegs 1982, indem er den Abzug der PLO-Kampfverbände mitverhandelte und Arafat freies Geleit nach Griechenland garantierte. Griechenland stellte vier Passagierdampfer für die Evakuierung der PLO-Truppen aus dem libanesischen Beirut bereit. Ein fünftes Schiff brachte Arafat und seine engsten Mitstreiter nach Athen, wo er am 30. August 1982 triumphal empfangen wurde und Papandréou das PLO-Büro zur diploma­tischen Vertretung aufwertete. Seitdem war der Palästinenserführer ein regelmäßiger Gast in Athen und fester Bestandteil der fünf Pasok-Kongresse zwischen 1984 und 2001, auch unter Kostas Simítis, der von 1996 bis 2004 Vorsitzender der Partei und Ministerpräsident war.

In all den Jahren pflegte Griechenland enge kulturelle und akademische Beziehungen mit der PLO und später zur Palästinensischen Autonomiebehörde (PA). Tausende junger Palästinenser:innen haben im Rahmen dieser Abkommen in Griechenland studiert. Einer davon, der 26jährige Ibrahim Hasikeh, sprengte sich und sechs Menschen am 19. April 1991 in Pátras in die Luft, als der für das britische Konsulat bestimmte Sprengsatz zu früh explodierte. Nach der Verhaftung palästinensischer Studenten in Thessaloníki und Pátras kam ans Licht, dass die Attentäter nicht nur das Konsulat sprengen, sondern auch israelische Diplomaten ermorden wollten. Arafats PLO-Geheimdienst hatte wichtige Hinweise auf die mutmaßlichen Täter und weitere geplante Anschläge des weltweit gesuchten palästinensischen Terroristen Abu Nidal, an Griechenland weitergegeben. Dessen Organisation, eine PLO-Abspaltung namens Fatah-Revolutionsrat, zeichnet für über 100 Anschläge in mehr als einem Dutzend Staaten verantwortlich.

Trotz dieses und weiterer Anschläge in Griechenland genießen Palästinen­ser:innen bei der Mehrheit der griechischen Linken Sympathie. Man empfindet sich als schicksalsverwandt aufgrund historischer Erfahrungen mit der Besetzung des eigenen Landes durch fremde Mächte und der Befreiungskämpfe gegen diese. Hinzu kommt, dass in der griechischen Linken traditionell antiimperialistisches Denken vorherrscht und die stalinistische Kommunistische Partei Griechenlands (KKE) recht stark ist. Das führt dazu, dass althergebrachte Muster und überholte Kategorien über unterschiedliche politische Probleme gestülpt werden, ohne lokal und historisch abweichende Umstände zu beachten und ohne Interesse daran, die Komplexität und Widersprüchlichkeit politischer Verhältnisse zu erkennen. Im Zweifelsfall sind sowieso immer die USA (beziehungsweise die CIA), die Nato, die Türkei und die EU schuld, oder auch Israel (der Mossad), das Finanzkapital, George Soros und die Rothschilds. Der tiefverwurzelte Antisemitismus führt zur undifferenzierten Benutzung von Schlagwörtern wie »Widerstand«, »kämpfendes Volk«, »Imperialismus«, »Kolonialismus«, »Apartheid« und »Völkermord«, ohne sich genauer damit auseinanderzu­setzen.

Am 15. Mai richteten sich die Aufrufe kommunistischer Parteien und linksradikaler, anarchokommunistischer und vereinzelter anarchistischer Gruppen gegen den angeblich lange geplanten »Völkermord am kämpfenden palästinensischen Volk« durch »den »faschistischen Mörderstaat Israel«. Die Texte sind eindeutig. Die Gruppe Kinisi tis Violétas beispielsweise schreibt: »76 Jahre nach Beginn der Katastrophe, die am 15. Mai 1948 durch den militärischen Einmarsch des neu geschaffenen Terrorstaats Israel in die palästinensischen Gebiete mit Unterstützung der Imperialisten in den USA, Europa und der Uno ausgelöst wurde. 

76 Jahre Besatzung und Massaker, Kolonisierung und Apartheidregime durch die zionistische Entität reichten nicht aus. Mehr als sieben Monate nach der revolutionären Flut von historischem Ausmaß, die der palästinensische ­Widerstand am 7. Oktober ausgelöst hat, setzen die zionistischen Kriegsverbrecher mit Unterstützung und Komplizenschaft der USA, der Nato und der EU und trotz des weltweiten Aufschreis ihren völkermörderischen ›Säuberungsplan‹ ununterbrochen fort.« Die anarchokommunistische Gruppe Diarkís Agónas (Dauernder Kampf) träumt vom bewaffneten Volkskampf, zu dem der »seit vielen Jahren anhaltende palästinensische Widerstand« übergangen sei, nachdem er sich »die weltweite geopolitische Instabilität und die prekäre innenpolitische Situation des Killerstaats zunutze« gemacht habe.

Es scheint, als sei es unmöglich, faschistische und ultraorthodoxe Tendenzen in der israelischen Regierung und Gesellschaft zu kritisieren oder Solidarität mit dem Leid der palästinensischen Zivilbevölkerung auszudrücken, ohne sich mit Islamfaschisten und Mördern gemein zu machen und Folter, Massaker und Massenvergewaltigung als Errungenschaften eines ­Befreiungskampfs zu feiern.

Andere Fraktionen der radikalen Linken, der anarchistischen Bewegung oder der KKE bestreiten das Recht Israels auf Selbstverteidigung. Der KKE-Generalsekretär Dimítris Koutsoúmbas sagte der Presse am 15. Mai: »Es gibt kein Alibi für Selbstverteidigung. Das palästinensische Volk hat das Recht auf Widerstand, auf Freiheit, auf Anerkennung des palästinensischen Staats in den Grenzen von 1967 mit Ost-Jerusalem als Hauptstadt. Nur wenn diese Frage geklärt und die israelische Besatzung Palästinas beendet wird, wird es Frieden in der Region geben.«

Pikanterweise wurde am 15. Mai ein Anarchist im nordgriechischen Komotiní wegen der »Beleidigung nationaler Symbole« festgenommen. Er hatte eine griechische Nationalfahne, die an einem Geschäft in der Innenstadt gehisst war, heruntergerissen und auf den Boden geworfen. Im Aufruf seiner Genoss:innen zur Kundgebung vor der Polizeiwache hieß es: 

»Wir sind hier, um daran zu erinnern, dass wir auf jede Nationalfahne spucken, weil sie mit dem Blut der Unterdrückten getränkt ist, die im Namen des Staats abgeschlachtet, gefoltert, eingesperrt, ausgehungert und ausgebeutet wurden. Wir spucken darauf, weil uns der mit ihr ausgedrückte Nationalismus zum Erbrechen bringt. Ein Nationalismus, der gegen alles vorgeht, was vom ›Normalen‹ oder ›Erlaubten‹ abweicht, der darauf zielt, Sklaven und Herren in nationaler Identität zu vereinen. Ein Nationalismus, der genau wie Rassismus als Mittel gegen den Kampf für Emanzipation benutzt wird. Und wir spucken auf alle, die hinter Nationalfahnen herlaufen, im Rhythmus der Hymne marschieren oder im Namen der Nation Kriege führen. Wir Unterdrückten haben kein Vaterland.« 

Während also Tausende Demonstranten palästinensische Nationalfahnen schwenkten, kritisieren die Genoss:in­nen am griechischen Beispiel das ­Ideal von Staat und nationaler Einheit, mit dem auch die Hamas die Bevölkerung des Gaza-Streifens unterdrückt – wiewohl die Hamas als islamistische Organisation die Nation nur als Etappe auf dem Weg zur weltweiten islamischen Zwangsgemeinschaft ansieht.

Die griechische Regierung geht indessen mit ungekannter Härte gegen »palästinasolidarische« Besetzer:in­nen der Juristischen Fakultät in Athen vor. Einen Tag nach der polizeilichen Räumung des Universitätsgebäudes wurden 19 Besetzer:innen freigelassen, die neun ausländischen jedoch ins Abschiebelager Amygdaléza gebracht. Die genossenschaftliche Athener Tageszeitung Efimerída ton Syntaktón (­Efsyn) berichtete, sie sollen dem Sekretär für Erstaufnahme von Migranten im Athener Innenministerium, Mános Logothétis, zufolge als »unerwünschte Ausländer, die die Sicherheit des Landes gefährden«, abgeschoben werden; es handelt sich um Staatsbürger:innen Großbritanniens, Frankreichs, Spaniens, Italiens und Deutschlands, von denen manche seit Jahren in Griechenland leben, arbeiten oder studieren. Sollte es tatsächlich zur Abschiebung kommen, wäre dies ein weiterer Beweis für das Bestreben der Regierung, Griechenland autoritär umzugestalten.

Letztlich beteiligten sich am 15. Mai der Efsyn zufolge gut 3 000 Menschen an der Demonstration zur israelischen Botschaft in Athen. Mit der englischsprachigen Parole »From the river to the sea, Palestine will be free« und der arabischen Abwandlung, die übersetzt auf »ganz Palästina wird arabisch sein« endet, machten die Teilnehmer:innen noch einmal deutlich, dass Israel als Zufluchtsort der Überlebenden der Shoah und der von Antisemitismus Bedrohten für sie kein Existenzrecht besitzt.

Allerdings gibt es im Unterschied zu Deutschland in Griechenland bisher keine antisemitischen Angriffe auf Menschen. Die Anzahl von gegen israelische Firmen oder jüdische Gedenkstätten gerichteten Angriffen wie Sprühereien und Sachbeschädigungen ist ­allerdings stark gestiegen. Nach Angaben des Generalsekretärs des Zentralrats der Juden in Griechenland, Victor Eliezer, war die Steigerung bereits im November enorm. In vielen Fällen handle es sich um Nazi-Vergleiche. Ende Oktober wurde auf ein Wandbild in Erinnerung an die nach Auschwitz deportierte jüdische Bevölkerung Thessaloníkis am Bahnhof der Stadt die Parole »Juden = Nazis« geschrieben.