Die Kurzfilmtage in Oberhausen und ihr Leiter Lars Henrik Gass erwehren sich einer Kampagne

Aufruf, Aufruhr und Autoren

Die Internationalen Kurzfilmtage Oberhausen gelten als das weltweit älteste Kurzfilmfestival und als eines der bedeutendsten. Doch in diesem Jahr war das Festival durch Boykottaufrufe bedroht. Für Impulse sorgte die Keynote von Bazon Brock.

Die Sonne schien, als über 100 Menschen im Hof des Zentrums Altenberg, einer ehemaligen Zinkhütte in Oberhausen, Schlange standen, um die erste Veranstaltung der Internationalen Kurzfilmtage Oberhausen, eine Tagung zur Lage des Kulturbetriebs und zu den herrschenden Kulturtheorien, zu besuchen. Auch als am Abend das Festival offiziell im Kino »Capitol« in der Fußgängerzone der Stadt eröffnet wurde, blieben die Festivalbesucher unbehelligt. Es hätte aber auch anders kommen können.

Am 20. Oktober hatte Festivalleiter Lars Henrik Gass auf Facebook zur Teilnahme an einer Solidaritätskundgebung für das von der Hamas überfallene Israel aufgerufen: »Eine halbe Million Menschen sind im März 2022 auf die Straße gegangen, um gegen Russlands Überfall auf die Ukraine zu protestieren. Das war wichtig. Bitte lasst uns jetzt ein mindestens genauso starkes Zeichen setzen. Zeigt der Welt, dass die Neuköllner Hamas-Freunde und Judenhasser in der Minderheit sind.«

Damit hatte Gass die Tore der BDS-Hölle geöffnet: Fast 2.000 Menschen unterzeichneten in der Folge eine Petition, in der sie ihn aufforderten, den Post zu löschen, weil er damit angeblich die in Neukölln zahlreich vertretene palästinensische Community stigmatisiert habe. Auf dem Festival geplante Filme wurden zurückgezogen und Gass’ Rücktritt gefordert.

»Ein gewisser Teil der Linken trat immer schon stabil gegen Antisemitismus ein. Zu ihnen gehört das Umfeld von Konkret und der Jungle World, die als Antideutsche diffamiert werden. Aber im Umfeld der Kulturlinken sah das vollkommen anders aus.« Lars Henrik Gass

Sich nach den brutalsten Judenmorden nach 1945 an die Seite Israels zu stellen, das fand die Kulturszene unentschuldbar. Gass gab dem Druck nicht nach, auch wenn er enttäuscht war, Kollegen und Bekannte unter denjenigen zu finden, die sich nun gegen ihn und das Festival stellten, das er seit 1997 leitet. »Am Anfang sprach ich mit den Ruhrbaronen und der Welt. Das hat für Öffentlichkeit gesorgt, aber auch für neue Angriffe, weil viele in der Kulturszene beiden Medien kritisch gegenüberstanden. Als Harry Nutt dann das Thema in der Berliner Zeitung aufgriff, hat das in Berlin sehr geholfen. Zu diesem Zeitpunkt wussten aber alle im Kulturbereich schon, dass es besser ist, sich nicht zu äußern. Mir war klar geworden, dass ich nichts mehr zu verlieren habe.«

Gass ist ein Linker und die Rücktrittsforderungen und dem Boykott­aufrufe gegen das Festival kamen von anderen Linken. Er kennt sich zu gut in den Zusammenhängen aus, um überrascht gewesen zu sein: »Ein gewisser Teil der Linken trat immer schon stabil gegen Antisemitismus ein. Zu ihnen gehört das Umfeld von Konkret und der Jungle World, die als Antideutsche diffamiert werden. Aber im Umfeld der Kulturlinken sah das vollkommen anders aus.«

Druck aus antisemitischen Kreisen

Die Stadt Oberhausen als Gesellschafterin der Internationalen Kurzfilmtage stellte sich jedoch hinter Gass. Auch die Kulturpolitik von Land und Bund, die das Festival fördern, ließ ihn nicht hängen. Die Verantwortlichen hatten allerdings auch kaum eine andere Möglichkeit: Dem Druck aus antisemitischen Kreisen konnte die nicht nur durch den Antisemitismus-Skandal der jüngsten Documenta angeschlagene Kulturstaatsministerin des Bundes, Claudia Roth (Grüne), nicht nachgeben.

Von seinen Kollegen aus dem Filmbereich erhielt Gass jedoch keine Unterstützung. »Geholfen haben andere, wie die FDP-Landtagsabgeordnete Yvonne Gebauer, die öffentlich kaum in Erscheinung getreten sind, aber alle Kontakte und Zugänge nutzten, um die Kurzfilmtage und mich zu unterstützen.«

Angefeindet. Lars Henrik Gass, ­Leiter der ­Kurzfilmtage Oberhausen

Angefeindet. Lars Henrik Gass, ­Leiter der ­Kurzfilmtage Oberhausen

Bild:
Eduard Meltzer

Der Boykottaufruf konnte die Kurzfilmtage nicht verhindern, allerdings wurden einige Filme daraufhin zurückgezogen, nicht zuletzt weil Gass und sein Team sich inhaltlich klar äußerten: »Wir haben gemeinsam mit der Mobilen Beratung gegen Rechtsextremismus einen Verhaltenskodex entwickelt, der über das hinausgeht, was zum Beispiel für die Berlinale gilt. Die IHRA-Definition von Antisemi­tismus ist ein Teil dieses Kodex, denn wir wollten auch israelfeindlichen Antisemitismus ausschließen.«

Als am frühen Nachmittag des 1. Mai der Kunsttheoretiker Bazon Brock, die Autorin Sara Rukaj und die Filmwissenschaftlerin Lea Wohl von Haselberg zu einer von der Journalistin Ute Cohen moderierten Diskussionsrunde zusammenkamen, stand die Kampagne gegen die Kurzfilmtage nicht im Zentrum. Es sollte vielmehr um Kulturtheorie gehen, worauf Bazon Brock, der die Keynote hielt, allerdings keine Lust hatte. »Geschwätz über Kulturtheorien findet doch überall statt.«

Identitätsdebatte kenne keine Indivi­duen mehr

Er wollte ­dagegen über die in der Renaissance entstandenen Autorenschaft in Wissenschaft und Kunst sprechen, die nun von der Identitätspolitik bedroht sei, wie er ausführte. Die Identitätsdebatte kenne keine Indivi­duen mehr, sondern nur noch Kollektive. Dass nicht Gemeinschaften, sondern Individuen, die nichts anderes als ihre guten Argumente hatten, die Debatten prägten, sei eine der großen Errungenschaften Europas gewesen. Brock sieht sie in Gefahr, auch weil sich in Europa niemand mehr dieses Erbes bewusst sei und es deshalb aufgebe: »Nicht die Migranten sind das Problem, sondern die Einheimischen. Die sind ja noch dümmer als die Migranten.«

»Wir haben gemeinsam mit der Mobilen Beratung gegen Rechtsextremismus einen Verhaltenskodex entwickelt, der über das hinausgeht, was zum Beispiel für die Berlinale gilt. Wir wollten israelfeindlichen Antisemitismus ausschließen.« Lars Henrik Gass

Allerdings war Kulturtheorie nun mal das Thema und Cohen achtete darauf, dass Brock die Debatte nicht kaperte, wobei er den richtigen ­Akzent gesetzt hatte: das postmoderne Ideengebäude als einen Angriff auf die Aufklärung und ihre Errungenschaften anzusehen, deren wichtigste für ihn die Autorenschaft des Individuums war. Auf dem Festival war er mit diesem Anliegen eigentlich auch goldrichtig aufgehoben. »Freiheit von der Bevormundung durch Interessengruppen« lautete schließlich eine der wichtigsten Forderungen des »Oberhausener Manifests«, das am 28. Februar 1962 anlässlich der Kurzfilmtage veröffentlicht wurde. Die von Edgar Reitz, Peter Schamoni und Alexander Kluge unterzeichnete Erklärung gilt als Meilenstein in der Entwicklung des westdeutschen Autorenkinos und ist untrennbar mit der Geschichte des Festivals verbunden.

Ideen der Aufklärung in Gefahr

Die Ideen der Aufklärung sah auch Sara Rukaj in Gefahr. Seit vielen Jahren arbeitet sie mit iranischen Flüchtlingen zusammen: »Die sind entsetzt und enttäuscht, wenn sie erleben müssen, wie Veranstaltungen über die iranische Diktatur von Gruppen wie ›Studis gegen rechts‹ gestürmt werden.« Und während Kritik am Mullah-Regime für postkoloniale Gruppen immer rechts ist, verbreiten sie antisemitische Narrative wie das des skrupellosen jüdischen Ausbeuters. Während Cohen, Rukaj und Brock auf dem Podium diskutierten und sich gegenseitig die Bälle zuspielten, kam Lea Wohl von Haselberg kaum zu Wort. Ihr Gebiet, die Filmwissenschaft, geriet in der ­ersten Diskussionsrunde des Filmfestivals denn doch ins Hinter­treffen.

Während sich große Teile der ­Kulturszene entweder offen gegen Israel stellen oder in den Debatten nach dem 7. Oktober den Mund hielten, um jedes Risiko zu vermeiden, ging Gass in die Offensive. Das ehrt ihn, aber leider werden ihm andere kaum folgen. Sich nicht für den Kampf gegen Israel instrumentalisieren zu lassen, wird in der Kultur­szene als »provinziell« denunziert. Daran wird sich nichts ändern, bis die Kulturfinanzierung umgestellt wird und Hetzer gegen Israel nicht mehr mit Staatsgeldern in der heute üblichen Höhe rechnen können. Die Politik des Berliner Kultursenators Joe Chialo geht da den richtigen, wenn auch steinigen Weg.