Oscar Wilde und seine rebellischen Briefe aus dem Gefängnis

Kein Herz aus Stein

Der Band »Aus der Tiefe«, der vor allem Briefe von Oscar Wilde aus der Zeit seines Gefängnisaufenthalts enthält, zeigt den Dandy und Schriftsteller von einer neuen Seite: als politischen Aktivisten und Bewunderer von Jesus Christus.

»Diese Zeilen sollen Dich meiner unsterblichen, meiner ewigen Liebe versichern«, schrieb Oscar Wilde 1895 an Lord Alfred Douglas, seinen Liebhaber, den er mitunter auch zärtlich »Bosie« nannte. Es sollte einer der letzten Briefe sein, die Wilde an Douglas schickte.

Nur knapp ein Jahr später war die »ewige Liebe« verloschen und Wildes Briefe lesen sich plötzlich so wie dieser aus dem Mai 1896 an seinen engen Freund und ehemaligen Lebensgefährten Robert »Robbie« Ross: »Natürlich kann ich die grässlichen Erinnerungen an die zwei Jahre, in denen ich das Pech hatte, ihn um mich zu haben, nicht abschütteln, so wenig wie Erinnerungen an die Weise, mit der er mich in den Abgrund des Verderbens und der Schande gestürzt hat.« »Er« ist natürlich Douglas. Und mit dem »Abgrund« ist der Ort gemeint, von dem aus Wilde schrieb, nämlich das Zuchthaus zu Reading, westlich von London gelegen.

Die Bitten und Pläne von Freunden, aus London in Richtung Paris zu fliehen und so dem Prozess und der Verurteilung zu entgehen, lehnte Wilde rigoros ab.

Eine Notiz, die den wohl berühmtesten Rechtschreibfehler der Literaturgeschichte enthält, hatte Wilde hinter die Zuchthausmauern gebracht. »For Oscar Wilde posing Somdomite« stand auf der mit der Hand beschriebenen Visitenkarte, die John Douglas, 9. Marquess of Queensberry und Vater Alfreds, 1895 im Albemarle Club in London hinterließ, den auch Wilde regelmäßig frequentierte.

Queensberry hatte zuvor keinen Hehl daraus gemacht, dass er Wilde und dessen Beziehung zu seinem Sohn verabscheute, er intrigierte gegen die Freundschaft und drohte gar mit körperlicher Gewalt. Auch die Premiere von Wildes Stück »The Importance of Being Earnest« wollte Queensberry stören, was ihm aber nicht gelang. Die beschriftete Visitenkarte sollte sich als effektiver herausstellen.

Drei Prozesse, in deren Verlauf der Ankläger zum Angeklagten wurde

Wilde ließ die Sache nämlich nicht auf sich beruhen, sondern verklagte Queensberry wegen Verleumdung. Dies war der erste von insgesamt drei Prozessen, die in die Geschichte eingehen sollten. Drei Prozesse, in deren Verlauf der Ankläger zum Angeklagten wurde, Moral und Literatur diskutiert wurden und Wildes Verteidigung so einnehmend war, dass Menschen aus dem Publikum konstatierten, seine Rede sei die beste seit der von Paulus vor König Agrippa gewesen.

Die Bitten und Pläne von Freunden, aus London in Richtung Paris zu fliehen und so dem Prozess und der Verurteilung zu entgehen, lehnte Wilde rigoros ab. Beim zweiten Verfahren, dieses Mal gegen Wilde wegen des Vorwurfs der »groben Unanständigkeit«, kamen die Geschworenen zu keinem Urteil, nach dem dritten Prozess wurde Wilde 1895 wegen des gleichen Vorwurfs zu zwei Jahren Zwangsarbeit im Zuchthaus verurteilt. 1897 kam er wieder frei.

Der kürzlich erschienene Band »Aus der Tiefe« versammelt nun Briefe und Texte, die Wilde im Gefängnis verfasste, darunter bekannte Texte in neuer Übersetzung, so natürlich den an Douglas gerichteten berühmten Brief »De Profundis« und das Langgedicht »Die Ballade vom Zuchthaus Reading«. Spannend ist das Buch aber aufgrund der weiteren Briefe, die in ihm abgedruckt sind. Viele davon sind, wenn überhaupt, nur antiquarisch zu bekommen, und als Konvolut ermöglichen sie eine neue Sicht auf Wilde.

Vom hedonistischen Dandy zum politischen Aktivisten

Denn Wilde, als hedonistischer Dandy von vielen bewundert, aber auch von vielen verspottet, wurde hinter den Gefängnismauern geradezu zu einem politischen Aktivisten – allerdings mit dem, was er am besten zu benutzen wusste, nämlich dem Wort. Mehrere Briefe in dem Band bezeugen Wildes Einsatz für bessere Haftbedingungen. Die Gesuche schickte er allerdings nicht an irgendwen, sondern an den Innenminister und den Herausgeber der linken Zeitung Daily Chronicle.

In dem Brief, den Wilde dem konservativen Innenminister Matthew Ridley, 1. Viscount Ridley, 1896 schickte, bezichtigte er sich selbst des »sexuellen Wahns« (gemeint war damit Homosexualität), um zu argumentieren, »dass diesen Delikten Erkrankungen zugrunde liegen, die von ­einem Arzt behandelt werden müssen, und keine von einem Richter zu bestrafende Verbrechen darstellen«. Genau diese homophobe Argumentation hatte der Psychiater Richard von Krafft-Ebing zehn Jahre zuvor in seinem Buch »Psychopathia sexualis« vorgebracht. Ob Wilde eine List anwandte, indem er sich selbst zum pathologischen Fall erklärte, oder sich tatsächlich für einen hielt? Man darf von Ersterem ausgehen – immerhin entlastete er sich auf diese Weise davon, eine Straftat begangen zu haben, und hätte folglich aus dem Zuchthaus entlassen werden müssen.

Dem Innenminister schilderte Wilde darüber hinaus die miserablen Bedingungen im Gefängnis. Er saß in Einzelhaft, hatte Hör- und Sehprobleme, die der Gefängnisarzt nicht ernst genug nahm. Vor allem aber fürchtete er sich davor, wahnsinnig zu werden – was viele Zeitungen im Land bereits über ihn kolportiert hatten –, und bat um Hafterleichterung.

»Nicht die Häftlinge bedürfen der Besserung. Verbessert gehören die Gefängnisse.«­ Oscar Wilde

In einem Brief an den Daily Chronicle wurde Wilde noch deutlicher: Detailliert beschrieb er das Leben im Gefängnis. Der Anlass für seinen Brief war die Entlassung eines Wärters gewesen, der einem kleinen inhaftierten Jungen (in Wildes Worten ein »Knirps«) Kekse gegeben hatte. Diese Begebenheit veranlasste Wilde dazu, der Zeitung eine geradezu manifesthafte philosophische Abhandlung über die Grausamkeit zu schicken, die so gut wie alle Kernpunkte des Wilde’schen Werks berührt. Er agitiert darin gegen den Stumpfsinn, der die Grausamkeit sei, der ebenfalls »der völlige Mangel an Vorstellungskraft« zu eigen sei. Autorität bezeichnet Wilde als ebenso »zerstörerisch für jene, die sie ausüben, wie für jene, an denen sie verübt wird«, und dass vor allem Kinder eingesperrt wurden, straft er mit dem Satz ab: »Man hält etwas für richtig, weil es die Regel ist.« Schließlich kommt er zu dem Schluss: »Nicht die Häftlinge bedürfen der Besserung. Verbessert gehören die Gefängnisse.«

Wildes Ton rührte her von seiner Erfahrung, eingesperrt zu sein, was er Douglas in »De Profundis« klarmachte: »Denn das Leben im Gefängnis mit seinen endlosen Entbehrungen und Beschränkungen macht einen rebellisch.« Dieser Brief entstand im Frühjahr 1897, kurz vor Wildes Entlassung, und erreichte seinen Empfänger nie. Stattdessen vertraute er den Text Robert Ross an, der ihn 1905, fünf Jahre nach Wildes Tod in Paris, zum ersten Mal publizierte.

Wilde will sich in Jesus Christus spiegeln

»De Profundis« ist ein Liebesbrief, gespickt mit den für Wilde typischen Reflexionen, Weisheiten und Aphorismen (»Das schlimmste Laster ist Oberflächlichkeit«; »Leiden ist das Mittel, durch das wir existieren, weil es das einzige Mittel ist, durch das wir uns unserer Existenz bewusst werden«; »Die Liebe speist sich aus der Vorstellungskraft, durch die wir klüger werden, als wir wissen, besser als wir fühlen, nobler als wir sind«).

Hinzu kommen eingestreute autobiographischen Skizzen und schließlich lange Passagen, die Wildes Hingezogenheit zum Christentum illustrieren – allerdings ist das weniger als Glaubensbekenntnis gemeint. Wilde interessiert sich für die Figur Jesus Christus als, wie er in einem Brief an Ross schrieb, »Vorläufer der romantischen Bewegung«, was ihm offenbar wurde, als er sich »in Gesellschaft derselben Art Leute befand, die Christus mochte, Ausgestoßene und Bettler«.

Geradezu kokett wird es in den Passagen, in denen Wilde sich quasi in Jesus spiegeln will, so etwa wenn er verkündet, Christus sei »der allergrößte Individualist« gewesen – was er nicht nur mit seiner Tätigkeit als Künstler in Verbindung bringt, sondern auch mit der Liebe, die Wilde als »den Hauptzug meines Wesens« bezeichnete.

Das Interesse am Christentum mag einen ganz banalen Grund gehabt haben, nämlich den, dass es im Gefängnis außer theologischer Literatur nicht viel zu lesen gab, doch Wilde selbst schreibt in »De Profundis«, dass er alles, was ihm widerfahren ist, das »ekelhaften Essen«, die »schroffen Ordner«, die »schauderhafte Kleidung« und nicht zuletzt »Einsamkeit« und »Scham«, in eine »geistige (im Original: spiritual) Erfahrung« verwandeln müsse. Vor nichts graute ihm mehr als davor, abgestumpft zu werden: Das Entsetzlichste am Leben im Gefängnis sei nicht, »dass es einem das Herz bricht – Herzen sind dazu da, gebrochen zu werden –, sondern dass es einem das Herz zu Stein verwandelt«.

Vielleicht war der Fall Wilde auch ein wichtiger Faktor bei der Beendigung der Strafverfolgung Homosexueller im Vereinigten Königreich.

An den Minister schrieb Wilde seinerzeit, er wisse, dass seine »Karriere als Dramatiker und Schriftsteller zu Ende ist« und sein Name »aus dem Kanon der englischen Literatur getilgt wurde und nie wieder darin Eingang finden wird«. Dem war zum Glück nicht so, die Gedichte, Theaterstücke und Erzählungen des 1900 völlig verarmt Verstorbenen sind unvergessen.

Und vielleicht war der Fall Wilde auch ein wichtiger Faktor bei der Beendigung der Strafverfolgung Homosexueller im Vereinigten Königreich. Denn sein von ihm tief berührter Biograph, der Politiker H. Montgomery Hyde (der bereits 1948 ein Buch über Wilde mit dem Titel »Famous Trials: Oscar Wilde« schrieb), war der wohl Erste, der offen die Entkriminalisierung der Homosexualität forderte und deshalb sogar von seiner Partei, der Ulster Unionist Party, nicht mehr nominiert wurde und sein politisches Mandat 1959 verlor. Hydes Engagement wird dazu beigetragen haben, dass schließlich 1967 Homosexualität zumindest ab dem 21. Lebensjahr in England und Wales legalisiert wurde.


Oscar_Wilde_Buchcover

Oscar Wilde: Aus der Tiefe. Aus dem Englischen von Mirko Bonné. Hanser-Verlag, München 2023, 368 Seiten, 38 Euro