Rezension zu Alice Rohrwachers magischem Film »La Chimera«

Erzählfluss und Wiederkehr

Die italienische Regisseurin Alice Rohrwacher beweist mit »La Chimera« nachdrücklich, dass sie zu den aufregendsten und innovativsten Filmemacher:innen der Gegenwart zählt. Ihr Film über Grabraub, Liebe und Besitzverhältnisse in der Toskana der achtziger Jahre ist so magisch wie radikal.

»La Chimera« beginnt mit Bildern in wackeliger 16-Millimeter-Ästhetik. Das Gesicht einer jungen Frau erscheint kurz und verschwindet wieder. Erst wenn der schlafende Pro­t­agonist in einem sonnendurchfluteten Zugabteil vom Schaffner geweckt wird und die Augen aufschlägt, setzt die eigentliche Handlung ein.

Der Brite Arthur (Josh O’Connor) ist ein gerade aus der Haft entlassener Grabräuber auf dem Weg in die Toskana. Die Frau aus dem Traum ist seine verstorbene Liebe Beniamina. Ihr Bild wird im Verlauf der Erzählung mehrfach auftauchen, immer in ­kurzen Szenen, die – unentschieden zwischen Traum, Erinnerung und Phantasie – die abenteuerliche Handlung des Films unterbrechen.

Das Fluide und die Überschreitung von Schwellen und Grenzen bilden das Strukturprinzip des Films, der sich beständig in Zonen des Übergangs bewegt.

Die Bande von tombaroli – Kunstdiebe, die antike Gräber plündern, von denen es in Italien noch zahlreiche gibt – wartet bereits auf Arthurs Rückkehr, denn der schweigsame Mann verfügt über eine profitable Gabe: Mit einer Wünschelrute kann er Hohlräume unter der Erde erspüren. Auf diese Weise kann er noch unentdeckte etruskische Grabkammern ausfindig machen. Das Beutegut, Opfergaben an Tote der Antike, verkauft die Bande anschließend an die dubiose Schweizer Kunsthändlerin Spartaco (Alba Rohrwacher), die diese an Museen weiterverkauft.

Arthur ist eine ungreifbare, rätselhafte Figur auf der Schwelle zwischen Leben und Tod, Gegenwart und Vergangenheit, Realität und Phantasma. Er gerät schnell wieder in den Sog der Schatzjagd. Ihn scheint allerdings weniger die Aussicht auf Profit zu motivieren, als der Drang, Kontakt mit dem Reich der Toten aufzunehmen. Die Sehnsucht nach der verstorbenen Beniamina und sein diebischer Entdeckungsdrang verschmelzen miteinander.

Brillant inszeniert ist die Entdeckung der Gräber

Bei einem Besuch in der verfallenen Landvilla von Beniaminas Mutter Flora (Isabella Rossellini), einer ehemaligen Opernsängerin, lernt Arthur deren Haushälterin Italia (Carol Duarte) kennen. Die junge Frau möchte bei Flora eigentlich Gesang studieren, muss sich aber als ihre Putzfrau verdingen. Sie revanchiert sich, indem sie der alternden Mat­riarchin verheimlicht, dass sie ihre beiden Kinder in dem Anwesen ­untergebracht hat. Italia interessiert sich für Arthur, eine Liebesbeziehung deutet sich vage an und bremst dessen Rastlosigkeit aus.

In Zusammenarbeit mit ihrer großartigen Kamerafrau Hélène Louvart gelingt Rohrwacher ein auch formal außergewöhnlicher Film. Immer wieder ändert sich das Bildformat, es gibt Kamerafahrten, die erst enden, wenn die Welt kopfsteht, dazwischen auch Zeitraffer und manchmal hef­tige Wechsel im Erzählrhythmus. Die Geschichte hält trotz dieser Formspiele durchweg zusammen und verliert nie ihren verführerischen Sog. Dies mag auch an den körnigen Analogbildern und dem Sepia-Look liegen, die die märchenhafte Geschichte aus den achtziger Jahren erden. So wirksam dabei nostalgische Gefühle evoziert werden, so sehr haben Rohrwacher und Louvart ihre Bildpoesie doch im Griff, um Retro­manie stets im richtigen Moment zu vermeiden.

Brillant inszeniert ist die Entdeckung der Gräber. Wie mit den ätherischen Traumbildern von Beniamina unterbricht Rohrwacher mit diesen Szenen die eigentliche Handlung und führt die Erzählung auf eine symbolische Ebene. Die Innenwelt des Protagonisten – das Gefühl der Leere nach dem Verlust seiner Geliebten – spiegelt sich in der Düsternis und Leere der Höhlen. Arthurs Verhaftetsein in der Vergangenheit findet eine verzerrte Entsprechung im Umgang mit den Artefakten aus ­fernen Zeiten.

Anleihen beim Magischen Realismus

Das Fluide und die Überschreitung von Schwellen und Grenzen bilden das Strukturprinzip des Films, der sich beständig in Zonen des Übergangs bewegt. Trotz seiner Anleihen beim Magischen Realismus verliert sich »La Chimera« nicht in surrealer Beliebigkeit, sondern fokussiert immer auch auf soziale Antagonismen. Rohrwachers Sympathien für soziale underdogs sind dabei offenkundig. Das zeigt sich nicht zuletzt an der warmherzigen Inszenierung der schelmisch-fröhlichen Diebesbande.

Man könnte »La Chimera« im Sinne des französischen Philosophen Jacques Rancière als »dissensuelles« Kino bezeichnen, als einen Film, der hinsichtlich seiner Fiktion des Sozialen, trotz aller sinnlichen Verführungskraft, auf einen Dissens besteht.

Die Art und Weise aber, wie der Film Klassenverhältnisse darstellt, sorgt für produktive Verunsicherung; Herkunft und sozialer Status ihrer Figuren sind nicht auf den ­ersten Blick auszumachen, sondern werden erst allmählich in der Erzählung entfaltet. Ein Verfahren, das bereits aus den beiden ersten Filmen von Rohrwachers loser Trilogie über gesellschaftliche Randexistenzen, »Land der Wunder« (2014) und »Glücklich wie Lazzaro« (2018), bekannt ist. In »La Chimera« steht beispielsweise Floras herrschaftlicher Habitus in auffälligem Gegensatz zum Zustand ­ihres verfallenen Hauses.

Man könnte »La Chimera« im Sinne des französischen Philosophen Jacques Rancière als »dissensuelles« Kino bezeichnen, als einen Film, der hinsichtlich seiner Fiktion des Sozialen, trotz aller sinnlichen Verführungskraft, auf einen Dissens besteht.

Demgegenüber meint »konsensuelles« Erzählen den dominanten Modus von kinematographischer Kulturindustrie: Soziale Mimesis, also die Wiedererkennung sozialer Typen, bildet dort die Grundlage für die Spannungskonflikte auf der Handlungsebene.

»La Chimera« verweigert sich der Ordnung der Bilder

Das »Konsensuelle« daran ­besteht in Rancières Begriffen also nicht in einer Abwesenheit von Konflikt, sondern in der Übereinstimmung formaler Mittel des Filmerzählens mit einer bereits eingeübten sinnlichen Sozialordnung. Dieser Ordnung der Bilder verweigert sich »La Chimera« mit seiner fluiden Art der Erzählung, die nie zur politischen These verhärtet.

Italia stellt einmal fest, dass etwas, das niemandem gehört, allen gehört. Ein paradoxer Satz, der eine Welt in Aussicht stellte, die nicht von Besitzverhältnissen geprägt ist. Der Satz lässt sich aber auch auf das Erzählverfahren des Films anwenden. Die Kulturschätze und Mythen der Vergangenheit gehören allen und niemandem. Immer wieder taucht die Frage danach auf, inwieweit zur Kulturware verdinglichte Vergangenheit dennoch lebendig in der Gegenwart fortwirkt – oder umgekehrt, an solcher Wirkung verhindert wurde. Einmal durchbricht eine Figur die vierte Wand und sagt direkt zum Publikum: »Wenn die Etrusker noch wären, dann würde es all den Machismo in Italien nicht geben.« Eine Anspielung auf die außergewöhnliche Stellung der Frau im alten Etrurien.

Die bessere Zukunft bleibt indes vage. In dem stillgelegten Bahnhof, den Italia mit anderen Frauen und Kindern besetzt, scheint immerhin kurz die Möglichkeit eines Lebens jenseits von kapitalistischem Fortschritt und krisenhaftem Stillstand auf. Von Dauer ist in diesem Film aber nichts. Nur im traumwandlerischen Fluss des Erzählens selbst liegt das emanzipatorische Versprechen von »La Chimera« verborgen.

La Chimera (Italien 2023). Buch und Regie: Alice Rohrwacher, Darsteller: Josh O’Connor, Isabella Rossellini, Carol Duarte, Alba Rohrwacher. Filmstart: 11. April