In Brasilien gewinnt die traditionalistische Linke an Einfluss und fördert den Israelhass

Brasiliens neostalinistische Linke

In Brasilien war der linke Antizionismus, der Israel sein Existenzrecht absprach, bisher eine Minderheiten­position. Das hat sich seit dem 7. Oktober verändert, die Entwicklung kam allerdings nicht plötzlich.
Disko Von

International machen Linke und Anti­rassisten die »German guilt« (deutsche Schuld) für eine vermeintliche Unterdrückung »propalästinensischer« Positionen in Deutschland verantwortlich. Doch auch außerhalb Deutschlands gibt es Linke, die für das Existenzrecht Israels einstehen und einen Schulterschluss mit Islamisten und Antisemiten ablehnen. Yves Coleman kritisierte, dass der Linken die Begriffe fehlen, um den politischen Islam zu analysieren (»Jungle World« 49/2023). Peshraw Mohammed analysiert diesen als faschistische Ideologie (51/2023). Susie Linfield beklagte eine Rückkehr linker Abscheulichkeiten (2/2024). Rafael Gumucio erklärte die Anziehungskraft des islamistischen Todeskults für postmoderne Linke (3/2024).

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Rio de Janeiro. Die derzeitige Situation der Palästinenser im Gaza-Streifen sei historisch ohne Präzedenz, sagte Brasiliens Staatspräsident Luiz Inácio »Lula« da Silva am Sonntag vor zwei Wochen auf dem Gipfeltreffen der Afrikanischen Union in Addis Abeba. Wobei ihm dann doch ein historischer Vergleich einfiel: »als Hitler beschloss, die Juden zu töten«. Mit dieser Parallele charakterisierte er die Aussetzung der humanitären Hilfe der »reichen Welt« für palästinensische Flüchtlinge – tatsächlich ging es nur um Zahlungen an das UN-Hilfswerk für Palästinenser (UNRWA), nachdem Vorwürfe laut geworden waren, dass lokale UN-Mitarbeiter an den Angriffen der Hamas mitschuldig seien.

Israels Ministerpräsident Benjamin Netanyahu reagierte mit dem Vorwurf, Lula habe »eine rote Linie überschritten« und »den Holocaust verharmlost«. Der wiederum warf Israel vergangene Woche vor, einen »Genozid« an der palästinensischen Bevölkerung zu verüben, wofür er Kritik erntete. Doch sekundierten ihm die Staatsoberhäupter einiger Nachbarländer: Kolumbiens Präsident Gustavo Petro und der Boliviens, Luis Arce, gaben ihm recht und sprachen davon, die »Barbarei« dürfe nicht siegen. Venezuelas Präsident Nicolás Maduro ließ wissen: »Hitler war ein von westlichen Eliten geschaffenes Monster und heute hat der kriminelle israelische Militärapparat die gleichen Unterstützer und Finanzierungsquellen.« Ziel der Kräfte, die sich hinter den »Nachnamen der mächtigen Familien in den USA verbergen«, sei damals die Zerstörung der Sowjetunion gewesen.

Minderheitsströmungen innerhalb der Arbeiterpartei (PT) haben es verstanden, die Ablehnung der Politik der israelischen extremen Rechten auszunutzen und sie auf eine Kritik am Staat Israel zu lenken.

Diplomatische Zerwürfnisse mit Israel liegen in Lateinamerika mal wieder im Trend. Ende 2023 brach Bolivien die Beziehungen zu Israel ab, die erst 2020 wiederaufgenommen worden waren; zuvor waren sie 2009 unter Evo Morales abgebrochen worden. Hugo Chávez, seinerzeit Staatsoberhaupt von Venezuela, brach ebenfalls 2009 die diplomatischen Beziehungen ab, und sein Land hat sie seither nicht wiederaufgenommen. Auch Chiles linke Regierung hat am 31. Oktober ihren Botschafter aus Israel abgezogen.

Lateinamerika ist nach den arabischen und muslimischen Ländern, die direkt oder indirekt in den Konflikt verwickelt sind, der Teil der Welt, in dem die feindliche Haltung zu Israel die stärkste Resonanz findet. Besonders ausgeprägt ist diese in der »radikalen« Linken.

Die Gründung Israels befürwortete die Mehrheit der lateinamerikanischen Länder

Die Gründung Israels im Jahr 1948 befürwortete die Mehrheit der lateinamerikanischen Länder, darunter auch Brasilien. Da die UdSSR anfangs zu den Hauptunterstützern der Gründung Israels gehörte, war die Existenz des jüdischen Staats für die Linke eigentlich kein Problem. Mit der Suez-Krise 1956 begann ein Umdenken. Der arabisch-israelische Konflikt wurde von der Linken weltweit als eine Projektion des Kalten Kriegs interpretiert, in dem die arabischen Länder zu Partnern der UdSSR wurden und Israel sich unter dem Schutz der USA dem Modell der westlichen Demokratien annäherte.

Die Geschichte der jüdischen Einwanderung ins britische Mandatsgebiet Palästina wurde in den Folgejahren stark verzerrt, um das Bild der Juden als Kolonisatoren in einem imperialis­tischen Sinne zu zeichnen. Die von den Briten auf dem Höhepunkt der nationalsozialistischen Verfolgung verhängten Beschränkungen für die jüdische Einwanderung, die dem arabischen Druck nachgaben, sowie die direkten Verbindungen der palästinensischen Führung zu Nazi-Deutschland blendeten die Antiimperialisten aus.

Anfang der fünfziger Jahre fanden Schauprozesse gegen jüdische Kommunisten in Polen, Ungarn und der Tschechoslowakei statt und in der UdSSR wurde der Antisemitismus, der in den letzten Jahren unter Stalin offen zutage trat (angebliches Komplott der jüdischen Ärzte), getarnt und im Ausland als Kritik am Zionismus verbreitet. Durch diese breit angelegte ideologische Operation im prosowjetischen Lager wurde der Konflikt zwischen Israel und den umliegenden arabischen Ländern zu einer einseitigen Aggression der Juden gegen die Palästinenser umgedeutet.

Sechstagekrieg 1967 als endgültiger Wendepunkt in Bezug auf den Nahostkonflikt

Der Sechstagekrieg 1967 stellte für die meisten Linken einen endgültigen Wendepunkt in Bezug auf den Nahostkonflikt dar. Der überwältigende militärische Sieg erschütterte das Bild Israels als kleines Land, das durch die arabische Koalition in seiner Existenz bedroht war. Westliche Linke betrachteten palästinensische Flüchtlinge nun weitgehend auf der Grundlage des neuen ideologischen Standards, der den Krieg zu einer israelischen Besatzungsaktion erklärte. Nachdem die UdSSR mit Israel gebrochen hatte, wurde die kommunistische Linke zum Sprachrohr des arabischen Nationalismus, wo Holocaust-Leugnung und Antisemitismus nach 1948 auf fruchtbaren Boden gefallen waren. Das verstärkte sich im folgenden Jahrzehnt mit dem Niedergang der Befreiungsbewegungen und der Welle der Reislamisierung im Nahen Osten, die durch die Revolution von 1978/1979 im Iran ausgelöst wurde.

Dies ist der historische Kontext, aus dem die gegenwärtige antiimperialistische Mentalität, nicht nur in Lateinamerika, erwachsen ist. Sie verbindet eine anachronistische Bezugnahme auf den Kalten Krieg, die Israel lediglich als Vorposten der US-Interessen betrachtet, mit einem Antizionismus, der die Legitimität des jüdischen Staats bestreitet. Angesichts des Niedergangs des arabisch-palästinensischen Nationalismus projiziert diese Ideologie die Lösung der »palästinensischen Frage« auf islamistische Organisationen, die nicht auf den nationalen Aufbau, sondern auf die Vernichtung der Juden ausgerichtet sind.

In Brasilien war dieser reaktionäre, realitätsferne Ideologiemix stets in der Minderheit. In progressiven Kreisen herrschte die Vorstellung vor, dass ein palästinensischer Staat neben einem jüdischen Staat auf dem Wege der Verhandlung und der Basis gegenseitiger Anerkennung existieren könnte.

Immer mehr Menschen auf der ganzen Welt finden im Zuge der derzeitigen Kriegshandlungen zu einer antiisraelischen Haltung. Diese Wendung nehmen sie allerdings nicht spontan. Im Falle Brasiliens wurde sie von Minderheitsströmungen innerhalb der Arbeiterpartei (PT) herbeigeführt, die es verstanden, die Ablehnung der Politik der israelischen extremen Rechten auszunutzen und sie auf eine Kritik am Staat Israel zu lenken. Nicht die Politik der Regierungskoalition in Israel wird hier verworfen, sondern der Zionismus in Bausch und Bogen. Dieser wurde unterschiedslos für die Politik der ­extremen Rechten verantwortlich gemacht.

Parallelrealität in den sozialen Medien

In dieser Sicht der antizionistischen Linken hat die Gründung Israels nichts mit der Ausrottung der Juden in Europa zu tun, sondern war das Produkt der ­zionistischen Wortführer. Die fanatischen Gegner Israels haben in den sozialen Medien eine Art Parallelrealität geschaffen, in der sie das Massaker an Zivilisten durch die Hamas oder die Existenz von Geiseln im Gaza-Streifen leugnen.

Zentral für diese neostalinistische Formierung in der brasilianischen Linken ist das wichtigste linke Videoportal, TV 247, das als wortführend in der antiisraelischen Kampagne seit dem 7. Oktober gesehen werden kann. Am meisten geschaut werden dort die Videos, in denen der in Moskau lebenden Pepe Escobar, ein Freund Aleksandr Dugins, über die neue, multipolare Weltordnung schwadroniert. Diese neostalinistische Vermischung von Israelhass und Putin-Begeisterung verbreitet auch der Journalist und ­Autor Breno Altman, dieses Jahr ein Buch mit dem Titel »Contra o sionismo« (Gegen den Zionismus) veröffentlichte.

Neben der Militanz in den sozialen Medien gibt es noch einen weiteren Faktor, der Lulas Rede erklären kann. Im Gegensatz zur Innenpolitik, wo Lula alle möglichen Zugeständnisse an das konservative Milieu und die mächtigen Wirtschaftsgruppen gemacht hat, ist seine Außenpolitik, die darin besteht, die Abwendung von westlichen Staaten zu propagieren, sein linkes Markenzeichen. Teilweise ist das sogar sein einziger verbliebener Berührungspunkt mit der linken Wählerschaft.

Lulas Rede folgte dem in der Linken vorherrschenden Trend, die Verantwortung für den Tod von Zivilisten allein Israel zuzuschreiben.

Die dezidiert linke Position gibt vor, mit der antiimperialistischen Sache in Verbindung zu stehen, wie Fidel Castro in seiner Rede an die »fortschrittlichen Völker« 1979 die Friedensvereinbarungen von Camp David als Verrat an der arabischen Sache anprangerte. Diese linke Position allerdings ist im heutigen Kontext die der Vernichtungsideologie, die nicht nur den jüdischen Staat nicht anerkennt, sondern nicht einmal mehr zwischen Israel und den Juden unterscheidet.

Lulas Rede entspricht der ideologischen Radikalisierung, die durch die Anschläge der Hamas und Netanyahus Reaktion ausgelöst wurde. Die Frage, ob sie antisemitisch ist, wird in den sozialen Medien Brasiliens diskutiert. Es handelte sich um eine improvisierte Rede, die eher ein Gefühl der moralischen Empörung als eine klare politische Position widerspiegelt; sie folgt ­jedoch dem in der Linken vorherrschenden Trend, die Verantwortung für den Tod von Zivilisten allein Israel zuzuschreiben.

Dies impliziert eine ignorante Haltung gegenüber der Strategie der menschlichen Schutzschilde, mit der die Hamas versucht, die öffentliche Meinung in der Welt zu beeinflussen. Für den emotionsgesteuerten Anti­zionismus der lateinamerikanischen Linken ist die Kritik an einer Regierungskoalition mit Rechtsextremen in Israel untrennbar mit der moralischen Verurteilung des jüdischen Staats verbunden, die an die historischen Verzerrungen aus der Zeit des Kalten Kriegs erinnert. Und diese Verurteilung legitimiert alle Handlungen von Extremisten und Fanatikern gegen Israel.