Eine Schmutzkampagne gegen ukrainische Journalisten, die der Regierungskorruption nachgehen

Spionage auf der Redaktionsfeier

In der Ukraine wurden Journalisten, die über Regierungskorruption recherchieren, ausspioniert und mit Schmutzkampagnen überzogen. Journalistenverbände kritisieren mit scharfen Worten diese Bedrohung für die Meinungsfreiheit.

Kamjanske. Alles begann mit einem unangemeldeten Besuch in der Kiewer Wohnung von Jurij Nikolow. Der Journalist arbeitet für das Investigativmedium Naschi Hroschi (Unser Geld). Vor einem Jahr deckte er Korruption bei der Auftragsvergabe im ukrainischen Verteidigungsministerium auf, was schließlich zum Rücktritt von Verteidigungsminister Oleksij Resnikow führte.

Wie Nikolow auf seiner Facebook-Seite berichtete, versuchte am Abend des 13. Januar eine Gruppe Männer, in seine Wohnung zu gelangen, in der sich zu diesem Zeitpunkt jedoch nur seine kranke Mutter aufhielt. Die Eindringlinge hinterließen an der Wohnungstür Zettel mit Aufschriften wie »Wehrdienstverweigerer« und »Provokateur«. Später veröffentlichte ein anonymer Telegram-Kanal ein Video des Vorfalls, in dem zu hören war, wie die Personen Nikolow beleidigten, ihn als »Drückeberger« bezeichneten und verlangten, er solle zum Einberufungsamt gehen. Mit dem Vorwurf, er entziehe sich dem Militärdienst, versuchten die Unbekannten, den Journalisten in den Augen der Öffentlichkeit zu diskreditieren.

Nur drei Tage später, am 16. Januar, veröffentlichte der anonyme Youtube-Kanal Narodnaja Prawda (Die Wahrheit des Volkes) ein kompromittierendes Video, in dem Mitarbeiter einer anderen Redaktion, Bihus Info, zu sehen waren, wie sie auf einer Weihnachtsparty Drogen nehmen. Außerdem enthielt das Video einen Mitschnitt von Telefongesprächen zwischen Mitarbeitern von Bihus Info, die darüber sprechen, Drogen für die Betriebsfeier zu kaufen.

Bihus Info ist ein 2013 von dem Journalisten Denys Bihus gegründetes Investigativmedium, das Korruption von Regierung und Behörden aufdeckt. Noch am selben Tag teilte Bihus in seiner Eigenschaft als Chefredakteur mit, dass es sich bei den gefilmten Mitarbeitern nicht um Journalisten handele. Die Veröffentlichung des Videos sei ein Versuch, die gesamte Redaktion zu diskreditieren. Die Mitarbeiter, die Drogen konsumiert hätten, seien entlassen und der Rest sei aufgefordert worden, sich Drogentests zu unterziehen, um den Ruf der Redaktion zu schützen. Bihus zufolge sei das Video mit versteckten Kameras in einem Ferienkomplex auf dem Land gefilmt worden, wo die Redaktion ein Betriebsfest gefeiert hatte.

Bihus Info leitete eigene Ermittlungen ein und fand heraus, dass am Vorabend der Firmenfeier eine Gruppe von etwa 30 unbekannten Personen dieselben Räume in dem Ferienkomplex gemietet hatte. Die Redaktion geht davon aus, dass diese Gruppe dort versteckte Videokameras installiert habe, denn nach der Betriebsfeier seien einige der Personen in die Räume zurückgekehrt, mutmaßlich um die Kameras zu entfernen. Außerdem geht die Redaktion davon aus, dass die Telefone der Redakteure drei Monate bis ein Jahr lang abgehört worden seien. Das gefährde auch Quellen, die mit der Redaktion in Korruptionsangelegenheiten in Kontakt standen.

»Die Behörden nutzen anonyme Telegram-Kanäle, um unabhängige Journalisten anzugreifen.« Natalija Ligatschewa von der NGO Media Detector

Die Nationale Journalistengewerkschaft der Ukraine (NUJU) forderte die ukrainischen Behörden auf, die Journalisten zu schützen. »Die Verleumdungskampagne gegen unsere Kollegen stellt eine erhebliche Bedrohung der Meinungsfreiheit in der Ukraine dar und ist inakzeptabel«, schrieb sie. »Unter solchen Bedingungen wird jeder Journalist – sei es in der Provinz oder in Kiew –, der über sensible Themen berichtet, gezwungen sein, sich von der Recherche zurückzuziehen oder sie anonym zu betreiben.«

Auch die Journalistische Ethikkommission, ein Selbstregulierungsorgan der ukrainischen Medien, wandte sich in einer scharf formulierten Stellungnahme an die Behörden und warnte vor einer Bedrohung für die Demokratie und die Zukunft des Landes. »Die jüngsten Angriffe auf Jurij Nikolow und Denys Bihus sehen nach einer planvollen Kampagne aus, um Journalisten in den Augen der Öffentlichkeit zu diskreditieren«, schrieb die Kommission. »Das Ziel solcher Angriffe ist es, den Ruf von Journalisten zu zerstören und Misstrauen in journalistische Recherchen zu schüren.«

Die Organisation Mediaruch (Medienbewegung), ein informeller Zusammenschluss von Journalisten und Medienunternehmen, wies auf eine mögliche Verwicklung des engeren Umfeldes von Präsident Wolodymyr Selenskyj hin. »Es läge im Interesse der Staats­führung, die Meinungsfreiheit zu schützen und Provokationen gegen Journalisten zu unterbinden, denn anonyme Telegram-Kanäle, die mutmaßlich an der Organisation dieser Provokationen beteiligt sind, bezeichnen diese ausdrücklich als Vergeltung für Kritik an den Behörden, insbesondere am Präsidenten.«

Die Reaktion des Präsidenten, der zu dieser Zeit am Weltwirtschaftsforum in Davos teilnahm, ließ bis zum Abend des 17. Januar auf sich warten. In seiner täglichen Abendansprache erwähnte Selenskyj kurz, dass er den Sicherheitsdienst der Ukraine (SBU), den ukrainischen Inlandsgeheimdienst, angewiesen habe, die Umstände der Überwachung von Journalisten zu untersuchen. Jeglicher Druck auf Journalisten sei inakzeptabel.

Vier Tage später teilte die Polizei mit, dass sie fünf an dem Angriff auf Nikolows Wohnung Beteiligte identifiziert und vernommen habe, und kündigte an, auch die Hinterleute zu ermitteln. Der Inlandsgeheimdienst berichtete, dass Ermittler den Ferienkomplex durchsucht hätten, in dem die Journalisten von Bihus Info ausspioniert worden waren. Doch gab es in diesem Fall bislang keine weiteren Fortschritte, was diejenigen, die eine Verwicklung der Strafverfolgungsbehörden in die Überwachungsaktion vermuten, zu heftiger Kritik anspornte.

Die scharfe Rhetorik der Journalistenorganisationen gegen die ukrainischen Behörden zeigt, dass der informelle Konsens von Presse und Regierung, der sich in den ersten Kriegsmonaten etabliert hatte, immer weniger hält. Bereits im vergangenen Frühjahr hatte es Konflikte zwischen den Medien und der Regierung wegen der restriktiven Akkreditierungspraxis für die Frontberichterstattung sowie einer Verschärfung der gesetzlichen Kontrolle der Medien gegeben. Mittlerweile sprechen Medienvertreter von einer Bedrohung der Meinungsfreiheit und der Demokratie.

»In den ersten Monaten des Kriegs gab es eine gewisse Einigkeit zwischen Behörden und Journalisten. Die Medien beschlossen damals, statt über Korruption über die Verbrechen der russischen Armee zu recherchieren«, sagt Natalija Ligatschewa, Chefredakteurin der Monitoring-NGO Detector Media und eine der Vertreterinnen von Mediaruch, der Jungle World. »Doch dann wurde uns klar, dass die Korruption unserem Kampf gegen die Aggression schadet und dass wir zur Aufdeckung von Korruption zurückkehren müssen. Umfragen zeigen, dass es danach in der Öffentlichkeit auch Nachfrage gibt. Die Menschen sehen, dass mit der Versorgung der Armee, mit dem Verhalten der Unternehmen und der Behörden nicht alles in Ordnung ist.«

Ligatschewa zufolge reagiert die derzeitige ukrainische Regierung ungehalten auf Kritik. In dieser Hinsicht unterscheide sie sich nicht von der vorherigen unter Präsident Petro Poroschenko. Allerdings sei die derzeitige Regierung zusätzlich der Ansicht, dass Journalisten, die über Korruption berichten, der Kriegsführung gegen Russland schaden. »Die Behörden nutzen anonyme Telegram-Kanäle, mit denen sie unabhängige Journalisten angreifen. Das zwingt die Journalisten jetzt dazu, sich zusammenzuschließen.«

Oleksij Panitsch, ein ehemaliges Mitglied des Aufsichtsrats des öffentlich-rechtlichen Fernsehens der Ukraine, warnte, dass es tiefgreifende und ernsthafte Probleme mit der Meinungsfreiheit in der Ukraine gebe.

Oleksij Panitsch, ein ehemaliges Mitglied des Aufsichtsrats des öffentlich-rechtlichen Fernsehens der Ukraine, warnte, dass es tiefgreifende und ernsthafte Probleme mit der Meinungsfreiheit in der Ukraine gebe. Die »vierte Gewalt«, also die Medien, sei dabei auch selbst für die derzeitige Situation verantwortlich, weil sie zu lange stillgehalten hätten, argumentierte er in einem Beitrag auf Facebook. Seiner Meinung nach wurde der kritische Punkt bereits im Jahr 2021 überschritten, als Präsident Selenskyj per Dekret Sanktionen gegen missliebige ukrainische Bürger erließ. Damit habe er gegen die ukrainische Verfassung und das Strafgesetzbuch verstoßen.

Im Februar 2021 schloss die Regierung drei Fernsehsender – 112 Ukraine, News One und Zik –, die mit der als prorussisch geltenden Partei »Oppositionsplattform« und dem Politiker Wiktor Medwedtschuk in Verbindung standen, der mittlerweile im Rahmen eines Gefangenenaustauschs nach Russland überstellt wurde. Im April 2021 wurden ähnliche Sanktionen gegen andere ukrainische Bürger verhängt, darunter auch Geschäftsleute und deren Familien. Menschenrechtsorganisationen und Bürgerrechtler protestierten, weil diese Maßnahmen ebenso wie die Schließung der Fernsehsender nicht durch Gerichtsurteile verfügt worden waren.

»Die großen ukrainischen Medien haben einen fast vollständigen Boykott dieser Kritik der Menschenrechtsverteidiger organisiert und damit ihr Pu­blikum eingeschläfert, statt es über die Gefahr für die zukünftige Entwicklung des Landes zu informieren«, kritisiert Panitsch. »Bis auf wenige Ausnahmen haben die Medien und Journalisten geschwiegen oder diesem Vorgehen der Behörden sogar applaudiert.« Die ukrainischen Medien hätten damals einem Konflikt mit der Regierung aus dem Weg gehen wollen oder sie hätten mit den Maßnahmen sympathisiert. »Wer wird als Nächstes zum ›russischen Agenten‹ erklärt und durch den Nationalen Sicherheitsrat sanktioniert?« fragt Panitsch rhetorisch.

Natalija Ligatschewa räumt ein, dass ukrainische Journalisten noch nicht bereit dazu sind, den offenen Konflikt mit der Regierung zu suchen: »Wir müssen die Einigkeit im Land bewahren. Aber wir werden auch nicht schweigen, wenn Journalisten unter Druck gesetzt werden.«

Noch ist unklar, was die Ermittlungen gegen die Drangsalierer der Journalisten erbringen werden. Leider bleiben solche Fälle in der Ukraine oft ungelöst und kommen noch seltener vor Gericht.