Isoliert im Internat
Das Understatement beherrscht er. Am Abend des 7. Januar, kurz nachdem er einen Golden Globe für den besten Darsteller in der Sparte Komödie oder Musical erhalten hatte, saß der Schauspieler Paul Giamatti, noch in schwarzem Smoking gekleidet, entspannt in einer Filiale der US-amerikanischen Fastfood-Kette In-N-Out Burger in Westwood, Los Angeles. Auf dem Foto, das sein Schauspielkollege Michael Warburton auf X postete, tippt er gerade auf seinem Handy. Vor ihm auf dem Tisch liegen zwei noch unberührte Burger. Daneben: die goldene, knapp 40 Zentimeter hohe Trophäe.
Die begehrte Auszeichnung (die Golden Globes sind nach den Oscars die zweitwichtigste Preisverleihung der US-amerikanischen Filmbranche) hatte der Schauspieler kurz zuvor für seine Darstellung in Alexander Paynes neuem Film »The Holdovers« erhalten. In der Tragikomödie spielt er den griesgrämigen und strengen Altphilologie-Lehrer Paul Hunham, der gezwungen ist, eine Handvoll Schüler zu beaufsichtigen, die aus diversen Gründen die Weihnachtsferien des Jahres 1970 nicht bei ihren Eltern verbringen können und in ihrem Jungeninternat bleiben müssen.
»Reich und dumm ist eine beliebte Kombination an dieser Schule«
Der Film fügt sich ein in eine lange Reihe von Internatsfilmen. In diesen geht es meist um die Suche nach Identität, das Erwachsenwerden und die Rebellion gegen Autoritäten. Man denke nur an Peter Weirs »Dead Poets Society« von 1989, in der der Lehrer John Keating (Robin Williams) seine Schüler mit unkonventionellen Lehrmethoden zu eigenständig denkenden Individuen erziehen möchte und diese beginnen, sich gegen konservativen Starrsinn an der Schule aufzulehnen. Oder an Lindsay Andersons Satire »If ....« aus dem Jahr 1968, einen Meilenstein des britischen Gegenkultur-Kinos. Malcolm McDowell spielt darin einen aufmüpfigen Schüler, dessen Rebellion gegen repressive Erziehungsmethoden in einem furios brutalen Finale mündet.
Die Anti-Establishment-Haltung und die Unzufriedenheit von Malcolm McDowells aufmüpfigem Schüler Mick Travis hat auch in »The Holdovers« ihre Entsprechung im Verhalten von Angus Tully (Dominic Sessa). Der kifft lieber und interessiert sich für Pornohefte, anstatt sich an die rigiden Regeln der fiktiven Barton Academy zu halten, einer Eliteschule im schneebedeckten Neuengland, dem äußersten Nordosten der USA. Er ist einer der Unglücklichen, die die Ferien in der Schule verbringen müssen, da seine Mutter lieber mit ihrem neuen Partner in die Flitterwochen fliegt.
Auch der verbitterte und zynische Mr. Hunham, dessen Abneigung gegen die Eliteschüler sich in seinem fast schon an Sadismus grenzenden Unterricht äußert, bleibt nicht freiwillig hier. Weil er den Zögling eines einflussreichen Politikers und Schulmäzenen durchfallen ließ, muss er die Aufsicht über die »Holdovers« (die Überbleibsel) übernehmen. Angus’ Frust, der sich von jeder Zornesfalte auf seiner Stirn ablesen lässt, wird noch größer, als er nach wenigen Tagen als einziger Schüler im verlassenen und eisigen Schulgebäude zurückbleibt, zusammen mit Mr. Hunham und der schwarzen Köchin Mary, für deren Rolle die Schauspielerin Da’Vine Joy Randolph ebenfalls einen Golden Globe als beste Nebendarstellerin gewann.
»The Holdovers«, dessen Geschichte lose auf dem französischen Film »Merlusse« von Marcel Pagnol aus dem Jahr 1935 basiert, trägt zweifelsohne die Handschrift von Alexander Payne. Es sind vor allem die pointierten und scharf konturierten Charaktere, mit denen der Regisseur in seiner mehr als 30 Jahre umspannenden Karriere große Bekanntheit erlangt hat. Das ungleiche Duo aus Angus und Hunham ist gezwungen, sich in der winterlichen Isolation zusammenzuraufen.
Payne und seinem Drehbuchautor David Hemingson geht es um eine tiefe Einsamkeit, den individuellen Schmerz und auch um eine universelle Verlorenheit, die Menschen mit unterschiedlichsten Lebenswegen verspüren.
Dabei ist vor allem Paul Giamattis Spiel als verschrobener und übelriechender Lehrer, der von den Schülern wegen seines hervortretenden Auges als »Glubschauge« verspottet wird, herrlich anzusehen. Die Sticheleien und Provokationen von Angus pariert seine Figur immer wieder mit rhetorischer Schlagfertigkeit (»Reich und dumm ist eine beliebte Kombination an dieser Schule«). Als deeskalierende Vermittlerin zwischen beiden muss die Köchin Mary herhalten, die im Gegensatz zur stoischen Rigorosität von Hunham Mitleid mit dem zurückgelassenen Angus hat.
In Paynes Filmen geht es meist um das Austarieren zwischenmenschlicher Beziehungen, nie um die Zuspitzung und Konfrontation. Während in »The Descendants« (2011) ein hawaiianischer Anwalt sich seinen beiden Töchtern und der eigenen Familiengeschichte wieder annähern muss, nachdem seine Frau nach einem Unfall ins Koma gefallen ist, und in »Nebraska« (2013) ein Sohn unverhofft die Vergangenheit seines alkoholkranken und verwirrten Vaters kennenlernt und ihm so näherkommt, sind es in »The Holdovers« Angus und Hunham, die im Laufe des Films immer mehr Verständnis füreinander entwickeln.
Am Ende ist es die Menschlichkeit, die alle Zwistigkeiten überwindet. Von Umwälzung wie bei Andersons »If ....« ist hier dementsprechend wenig zu sehen. Payne geht es nicht um Radikalität und Provokation, sondern vielmehr um eine alle Hürden überwindende Harmonie. In »The Holdovers« sucht er nach dieser Harmonie in einer nostalgisch-melancholischen Reise in die Siebziger.
Auf »The Holdovers« liegt eine dicke Schicht Pastiche. Mit körnigem Analogbild und wohligem Singer-Songwriter-Sountrack spielt der Film nicht nur in den Siebzigern, er möchte sich auch so anfühlen, als wäre er in der Zeit gedreht worden.
Dementsprechend liegt auf »The Holdovers« eine dicke Schicht Pastiche. Mit körnigem Analogbild und wohligem Singer-Songwriter-Sountrack spielt der Film nicht nur in jenem Jahrzehnt, er möchte sich auch so anfühlen, als wäre er in der Zeit gedreht worden. Den Eindruck verstärken auch die gelegentlichen Kamerazooms von einer Bildeinstellung in die nächste, ein Stilmittel, das heutzutage kaum mehr verwendet wird und an die New-Hollywood-Filme eines Hal Ashby, Robert Altman oder Peter Bogdanovich denken lässt. Dass Payne hier wie auch in seinen vorherigen Filmen immer wieder die Balance zwischen bissigem Humor und fein akzentuierten Emotionen findet und nie die Schwelle zum Schmalz überschreitet, zählt zu den großen Stärken seiner Filme.
In »The Holdovers« ist er jedoch sehr darauf bedacht, dem gesellschaftspolitischen Kosmos jener Jahre nicht zu viel Raum zu geben. 1970 war Richard Nixon Präsident, nur zwei Jahre zuvor waren Martin Luther King und Robert Kennedy ermordet worden. Auf die Aufbrüche der Bürgerrechtsbewegung folgte ein bleierner Stillstand, den auch einflussreiche Väter so mancher Internatsschüler goutierten.
Auch Rassismus ist in jener Zeit omnipräsent. So auch für Mary, die um ihren verstorbenen Sohn trauert, der als bislang einziger Schwarzer an der Barton Academy zur Schule ging und im Gegensatz zu den reichen Bübchen unter der Schülerschaft in den Vietnam-Krieg eingezogen und dort kürzlich getötet wurde. Der Film erzählt zwar von diesem Konflikt, hegt ihn aber allzu schnell in die wohlige Atmosphäre ein.
Payne und seinem Drehbuchautor David Hemingson, der hier erstmals an einem Kinofilm beteiligt war, geht es vielmehr um eine tiefe Einsamkeit, den individuellen Schmerz und auch um eine universelle Verlorenheit, die Menschen mit unterschiedlichsten Lebenswegen verspüren. Wie Mary, die Weihnachten zum ersten Mal ohne ihren Sohn verbringen muss, oder Angus, der orientierungslos durch sein Leben stolpert und sich nach seinem Vater sehnt. Auch hinter Hunhams kontrollierter Strenge und Pedanterie verbirgt sich letztlich eine innere Leere: »Ich finde die Welt nur bitter und kompliziert für mich, und offenbar geht es der Welt ebenso mit mir.«
The Holdovers (USA 2023). Regie: Alexander Payne. Buch: David Hemingson. Darsteller: Paul Giamatti, Da’Vine Joy Randolph, Dominic Sessa. Filmstart: 25. Januar