From Wittgenstein with love – der Briefwechsel des Philosophen mit Ben Richards

Die Angst des Philosophen vor dem Glück

Die letzten fünf Lebensjahre Ludwig Wittgensteins waren geprägt von seiner Liebe zu dem um 35 Jahre jüngeren Ben Richards. Alfred Schmidt, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Österreichischen Nationalbibliothek, hat die Korrespondenz unter dem Titel »›I think of you constantly with love … ‹« herausgegeben. Die Briefe des Philosophen an den Londoner Medizinstudenten und Arzt zeigen einen von Selbstzweifeln geplagten Menschen.

Philosophen sind auch bloß Menschen. Damit sind sie nicht nur sterblich – wie ein oft zitiertes Lehrbeispiel für einen logischen Dreischritt besagt (»Alle Menschen sind sterblich«, »Sokrates ist ein Mensch«, also … und so weiter). Sie leiden auch unter menschlichen Problemen. Besonders gilt das, wenn sie, wie der Sprachphilosoph Ludwig Wittgenstein, schwul oder bisexuell sind, mit einem 35 Jahre Jüngeren liiert und in einer Gesellschaft leben, die Homosexualität im besten Fall exotisch findet.

Wittgenstein wurde 1889 in Wien geboren. Den größten Einfluss übte sein Denken aber im angelsächsischen Sprachraum auf die analytische Philosophie aus. Seine jetzt erschienenen Briefe an den Medizinstudenten und Arzt Ben Richards zeigen ­einen von Selbstzweifeln gequälten Menschen. In einem erschütternden Brief rechtfertigte er sich für den Vorschlag, die beiden könnten sich auf einer Schiffsreise eine gemeinsame Kabine nehmen. »Ich dachte (dummerweise), dass es Dir auch nichts ausmachen würde, sie zu teilen, wenn es mit mir wäre.«

Leider sind Richards Antworten in vielen Fällen nicht erhalten. So ist nicht völlig klar, ob er wirklich reserviert reagiert hatte – oder Wittgenstein ihm grundlos misstraute. Der Philosoph hatte Schwierigkeiten mit engen Bindungen; zeit seines Lebens war er besessen von der Idee einer »reinen«, unkörperlichen Liebe. »Liebe«, erklärte er dem Freund ein Jahr vor seinem Tod, »wird nicht daran gemessen, was ein Mensch fühlt, wenn der andere bei ihm ist, sondern daran, was er fühlt und für den anderen tut, wenn sie nicht zusammen sind.«

Wittgensteins Wertvorstellungen über die Geschlechter, über Genie und Judentum waren geprägt von Otto Weiningers antisemitischem Machwerk »Geschlecht und Charakter«, das lediglich nichtjüdischen Männern die Fähigkeit zu großen Werken zuerkannte.

Ende 1945, Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, hatten sich Wittgenstein und der 21jährige Richards kennengelernt. Die Beziehung, großteils eine Fernbeziehung, war Wittgensteins glücklichste Liebe. Doch auch sie war selten unbeschwert. Vor allem in der Anfangszeit der Beziehung war sich Wittgenstein der Zuneigung seines Freundes nicht sicher. »Das Furchtbare ist die Ungewissheit«, notierte er, dessen Denken so viel um die Konzepte von Wissen und Gewissheit kreiste, im Oktober 1946. Selbst dem Glück konnte er nicht trauen. »Ich habe immer Angst vor dem Glück«, bekannte er 1948.
Im Jahr darauf erkrankte Wittgenstein unheilbar an Prostatakrebs. Schon zuvor plagte ihn oft die Sorge, den Verstand zu verlieren – das Kostbarste, über das ein Philosoph verfügt.

Wer Wittgenstein nur als Vertreter des logischen Positivismus des Wiener Kreises kennt, wird überrascht sein, wie tief religiös er war und wie sehr ihn ethische Fragen quälten. Fast jeder Brief endet mit der Formel »God bless you«. Wiederholt ermahnte Wittgenstein seinen Geliebten, sich moralisch anständig zu verhalten, und bat ihn: »Verzeihe immer alles, besonders, dass ich mich in einem Brief schlecht ausdrücke.«

An der Universität Cambridge, wo Wittgenstein seit 1911 bei Bertrand Russell studiert hatte und später lehrte, versammelte er einmal seine Kolleg:innen, um ihnen gegenüber eine Art Beichte abzulegen. Einigen war das offensichtlich unangenehm. Ob er »etwa vollkommen« sein wolle, fragte ihn eine Kollegin rhetorisch, worauf Wittgenstein geantwortet haben soll: »Natürlich will ich das.«

Aus einer der reichsten Familien Österreichs stammend, hatte Wittgenstein Anfang der zwanziger Jahre mit dem schmalen Frühwerk »Trac­tatus logico-philosophicus« Furore gemacht. Doch kurz darauf zog er sich zeitweilig vom universitären Leben zurück und arbeitete, wie in Derek Jarmans schönem Film »Wittgenstein« (1993) zu sehen, vollkommen überfordert und unbeherrscht als Volksschullehrer.

1939 übernahm er den Lehrstuhl von George Edward Moore in Cambridge. Ein Kollege kommentierte, Wittgenstein keine Professur zu geben, wäre so ähnlich, wie »Einstein den Lehrstuhl für Physik« abzuschlagen. Doch das universitäre Umfeld behagte Wittgenstein nach wie vor nicht. Er könne dort, schrieb er Richards, »nicht wie zu Menschen« sprechen. 1947 gab er den Posten auf und widmete sich – vergeblich – dem Abschluss seines Spätwerks.

Wittgensteins Wertvorstellungen über die Geschlechter, über Genie und Judentum waren, wie bei erschreckend vielen Intellektuellen jener Zeit, geprägt von Otto Weiningers antisemitischem Machwerk »Geschlecht und Charakter« (1903), das lediglich nichtjüdischen Männern die Fähigkeit zu großen Werken zuerkannte. Weininger, der selbst aus einer jüdischen Familie stammte, hatte sich kurz nach der Veröffentlichung das Leben genommen.

Zwar gehörten bereits Wittgensteins Großeltern väterlicherseits nicht mehr der Jüdischen Gemeinde an, doch die Familie galt nach wie vor als »jüdisch«. 1931 zählte Wittgenstein Weininger zu den zehn großen Männern, die ihn beeinflusst hätten. In derselben Notiz schreibt er über sich, er sei in seinem Denken »nur reproduktiv« gewesen. Denn der »größte jüdische Denker« sei »nur ein Talent. (Ich z. B.)« Dass ein so großer Philosoph so sehr dem Antisemitismus erliegt und ihn gegen sich selbst richtet, ist erschütternd und tragisch.

Wittgensteins Frauenbild war von Sexismus geprägt. Seine Studentin Elizabeth Anscombe, der es mit ihrer außergewöhnlichen Begabung gelang, seinen Respekt zu gewinnen, soll er, wie sein Biograph Ray Monk schreibt, stets mit »old man« angesprochen haben.

Von Marx hat Wittgenstein wohl nie etwas gelesen. Trotzdem erklärte er 1934: »Im Herzen bin ich Kommunist.«

Im »Tractatus« war Wittgenstein davon ausgegangen, dass die Sprache lediglich dem Zweck diene, die wissenschaftlich erkennbare Welt darzustellen. Metaphysische Fragen kämen nur auf, weil Menschen diesen Zweck verkennen würden. Der antimetaphysischen Haltung blieb er treu.

Doch in seinem Spätwerk re­vidierte er die Vorstellung, dass die Sprache nur einen Zweck habe. Anhand von Alltagsbeobachtungen und auch nach Einwänden des gleichfalls in Cambridge lehrenden Ökonomen Piero Sraffa kam er zu der Einsicht, menschliche Kommunikation koordiniere vornehmlich Handlungen, bestehe aus Sprechakten, »Sprachspielen«.

Damit analysierte Wittgenstein die Sprache als sozial hervorgebracht. Die Bedeutung von Wörtern bestimmten nicht die Einzelnen, sondern sie ergeben sich aus dem gesellschaftlichen Gebrauch. Sraffa war Marxist. Mit Wittgenstein hat er in Cambridge viel diskutiert – bis er sich entnervt von ihm abwandte.

Von Marx hat Wittgenstein wohl nie etwas gelesen. Trotzdem erklärte er 1934: »Im Herzen bin ich Kommunist.« Nach einer mehrwöchigen Reise in die Sowjetunion im Jahr darauf, wofür Wittgenstein Russisch gelernt hatte, gab er den Traum wieder auf, in das Land der verehrten Schriftsteller Dostojewski und Tolstoi zu ziehen.

Wittgensteins Spätwerk kam nie zu einem Abschluss. Was posthum unter dem Titel »Philosophische Untersuchungen« erschien – herausge­geben von Anscombe, die er zu einer seiner drei Nachlassverwalter:innen ernannt hatte –, sind Fragmente, Sammlungen von kleinen Notizen. In Wittgensteins Briefen ist zwar viel von Arbeit die Rede, doch wenig vom Inhalt seines Denkens. Vielleicht haben Richards und er darüber gesprochen, wenn sie sich gesehen haben. Dass er in den Briefen von anderem schreibt, ist menschlich verständlich, aber aus Perspektive eines heutigen Lesers etwas enttäuschend. Denn nur weil Ludwig Wittgenstein der große Philosoph war, der er war, interessiert uns auch der verzweifelte Mensch.


Buchcover

Alfred Schmidt (Hg.): »I think of you ­constantly with love … » Briefwechsel Ludwig Wittgenstein – Ben Richards 1946–1951. Haymon, Innsbruck/Wien 2023, 447 Seiten, 24,90 Euro