Indiens Premierminister ­Narendra Modi entledigt sich der Opposition im Parlament

Bye-bye, Opposition

Indiens Regierung nimmt die demokratischen Institutionen immer stärker in die Zange. Im Dezember hat sie 141 Parlamentsabgeordnete der Opposition suspendiert.

Für Premierminister Narendra Modi von der hindunationalistischen Bharatiya Janata Party (BJP) ist 2024 ein wichtiges Jahr: Bei der Parlamentswahl, die voraussichtlich zwischen April und Mai abgehalten werden, wird sich entscheiden, ob Indien, das im Vorjahr zum bevölkerungsreichsten Land der Welt aufgestiegen ist, eine dritte Legislaturperiode von Modi regiert wird, der seit 2014 im Amt ist. So lange haben bisher nur Jawaharlal Nehru als erster Premierminister (von der Unabhängigkeit 1947 bis zu seinen Tod 1964) sowie dessen Tochter Indira Gandhi (von 1966 bis 1977 und von 1980 bis 1984) Indien regiert.

Einen Eindruck von der ungebrochenen Stärke Modis lieferten bereits die Regionalwahlen in einigen Bundesstaaten im November. Der BJP gelang es, den von ihr regierten zentralindischen Flächenstaat Madhya Pradesh klar zu verteidigen, das ebenfalls mehr als 80 Millionen Einwohner zählende Ra­jasthan zurückzugewinnen und auch im ressourcenreichen Chhattisgarh erneut zu triumphieren. Im südindischen Telangana, Indiens jüngstem, 2014 von Andhra Pradesh abgetrennten Bundesstaat, in dem die Hindunationalisten bisher nur eine Nebenrolle spielten, konnte die Partei immerhin Mandate im Regionalparlament hinzugewinnen.

Im Dezember begann dann eine Affäre, die die Selbstsicherheit der BJP und der Regierung beispiellos demonstrierte. Zunächst gelangten am 13. Dezember mehrere Männern von den Besuchertribünen in den Plenarsaal der Lok Sabha, des Unterhauses des indischen Parlaments. Sie versprühten farbiges, ungiftiges Rauchgas und riefen dabei Slogans; Chaos brach aus, bevor die Eindringlinge festgenommen wurden. Berichten zufolge waren sie wütend über die Regierungspolitik, vor allem wegen der hohen Arbeitslosigkeit.

Om Birla und Jagdeep Dhankhar suspendierten an einem einzigen Tag 78 Mandatsträger wegen »massiver Störung des parlamentarischen Betriebs«.

Der Vorfall ereignete sich am 22. Jahrestag eines terroristischen Anschlags auf das Parlament der »größten Demokratie der Welt«, wie sich Indien gern bezeichnet. Am 13. Dezember 2001 waren Angreifer auf das Parlamentsgelände vorgefahren, einem Wachmann war ihr Wagen mit einem gefälschten Schild des Innenministeriums aber verdächtig erschienen. Beim folgenden Schusswechsel wurden alle fünf Terroristen getötet, zudem ein Gärtner und acht Sicherheitsleute. Die damals bereits von der BJP dominierte Regierung beschuldigte die von Pakistan aus operierenden Terrorgruppen Lashkar-e-Taiba und Jaish-e-Mohammed.

Die Einsilbigkeit, mit der nun Modi, dessen engster Vertrauter und Innenminister Amit Shah und weitere Regierungsvertreter auf diesen erneuten, wenn auch unblutigen Angriff auf das indische Parlament reagierten, sorgte in oppositionellen Kreisen für Empörung. Etliche Abgeordnete stimmten im Parlament Sprechchöre an und schwenkten Plakate, von denen einige Modis Bild in kritischer Absicht zeigten. Hintergrund war, dass Pratap Simha, ein Abgeordneter der BJP, die Besucherpässe der Eindringlinge unterzeichnet hatte und sich weigerte, dazu Stellung zu beziehen. Daraufhin suspendierten Om Birla (BJP), der Vorsitzende des Lok Sabha, und Jagdeep Dhankhar (ebenfalls BJP), der Vorsitzende des Rajya Sabha, des Oberhauses sowie indischer Vizepräsident, an einem einzigen Tag 78 Mandatsträger wegen »massiver Störung des parlamentarischen Betriebs«.

In manchen Fällen bezog sich die Suspendierung nur auf die zu der Zeit laufende Wintersitzungsperiode des Parlaments, die am 22. Dezember endete. Andere Abgeordnete müssen allerdings befürchten, noch länger von der Wahrnehmung ihrer Mandate ausgeschlossen zu sein. Darüber entscheidet ein spezielles Gremium des Parlaments, das Privileges Committee. Insgesamt wurden seit dem 14. Dezember 141 Parlamentarier suspendiert – 95 im Unterhaus, 46 im Oberhaus.

In der Lok Sabha ist die Übermacht des Regierungsblocks ohnehin enorm, von den 543 Sitzen fallen 323 auf die National Democratic Alliance (NDA), das von der BJP angeführte Parteienbündnis. Von den lediglich 142 Abgeordneten, die das im Juli gebildete Oppositionsbündnis Indian National Developmental Inclusive Alliance (India) aus mehr als zwei Dutzend Parteien dort stellt, sind zwei Drittel von der Ausschlussentscheidung betroffen. In der Rajya Sabha, die insgesamt 245 hat, wird durch die Suspendierungen die Anzahl der 101 Sitze von India halbiert.

Die Führung der Oppositionsallianz hat am 21. Dezember mit einem Sitzstreik im Zentrum der Hauptstadt Neu-Delhi gegen das Vorgehen protestiert. Von einem »Angriff auf die indische Demokratie« ist die Rede. Auch Doraisamy Raja, Generalsekretär der Kommunistischen Partei Indiens (CPI), benutzte in einem Interview diesen Ausdruck. »Das Parlament wird überflüssig gemacht. Dabei ist es in unserer Demokratie die höchste Institution«, sagte er der indischen Nachrichtenagentur Asian News International.

Sharad Pawar, der Vorsitzende der säkularen Nationalist Congress Party (NCP) und einer der dienstältesten Parlamentarier Indiens – er gehört zu den nicht von einer Suspendierung betroffenen Oppositionsmitgliedern in der Rajya Sabha –, schrieb in einem harschen Protestbrief an den Oberhausvorsitzenden Dhankhar, dass Mitglieder des Hohen Hauses das Recht hätten, Erklärungen zu verlangen. Statt solche zu liefern, greife die Regierung zu Maßregelungen.

Rahul Gandhi von der liberalen Partei Indischer Nationalkongress (INC) warf Modi und seinen Getreuen vor, mehrere zehn Millionen Inderinnen und Inder seien damit ihrer politischen Interessenvertretung beraubt. Jeder der suspendierten Abgeordneten sitze im Parlament für Hunderttausende Wähler, so Gandhi.

Allerdings wirken die Maßregelungen anders als von Modi und den Seinen beabsichtigt. Zwar ist die Opposition zunächst geschwächt, zugleich stärkt die BJP damit unfreiwillig den Zusammenhalt im äußerst heterogenen Oppositionsbündnis, in dem es nach dem Regionalwahldebakel rumorte. Die sozialdemokratische Janata Dal (United) warf in einer Stellungnahme nach ihrem Parteikongress Ende Dezember der BJP, mit der sie früher jahrelang verbündet war, eine »faschistische Agenda« vor.