Wahlkampf in den Niederlanden

Neuwahl mit Neulingen

Für die Parlamentswahl in den Niederlanden am 22. November zeichnet sich ein Dreikampf zwischen der rechtsliberalen VVD, der neu gegründeten christdemokratischen Abspaltung NSC sowie der gemeinsamen Liste von Grünen und Sozialdemokraten ab.

Die Neuwahl in den Niederlanden findet statt, nachdem Ministerpräsident Mark Rutte von der rechtsliberalen VVD (Volkspartei für Freiheit und Demokratie) im Juli seine Koalition mit der liberalen D66 (Demokraten '66), CDA (Christdemokratischer Aufruf) und Christenunie (CU, Christenunion) nach zweieinhalb Jahren beendet hatte. Ein Streit über die Beschränkung des Familiennachzugs führte zum Ende des »Rutte 4« genannten Kabinetts. Die CU, der kleinste Koalitionspartner, wandte sich kategorisch gegen das familienfeindliche Vorhaben. Rutte tritt bei der kommenden Wahl der Zweiten Kammer des niederländischen Parlaments nicht mehr an, somit endet seine 13 Jahre währende Amtszeit mit wechselnden Koalitionen.

Der neue Shootingstar heißt Pieter Omtzigt. Seine erst im August gegründete Partei Nieuw Sociaal Contract (NSC, Neuer Gesellschaftsvertrag) liegt in den Umfragen mit 16 bis 19 Prozent der Stimmen vorne. Omtzigt hatte den CDA 2021 verlassen. Zuvor hatte er mit seiner Arbeit zur Aufdeckung der Toeslagenaffaire (Kindergeldaffäre) dazu beigetragen, das vorherige Kabinett (»Rutte 3«) zu Fall zu bringen. Das Finanzministerium hatte über Jahre hinweg Tausenden Familien systematisch und mutmaßlich anhand rassistischer Kriterien zu Unrecht Betrug vorgeworfen und sie teils in den Ruin getrieben.

Omtzigt wandte sich deshalb gegen eine Neuauflage der aufgelösten Koalition. Er trat aus dem CDA aus, erlitt einen Burn-out und verblieb als Ein-Mann-Fraktion im Parlament. Er gewann mit seiner konsequenten Haltung parteiübergreifend Sympathien, die seiner neuen Partei nun zum Wahlerfolg verhelfen könnten.

Mark Ruttes Amtszeit als Minister­präsident mit wechselnden Koalitionen endet nach 13 Jahren.

Hingegen scheint das Image des anderen Aufsteigers des Jahres bereits zu verblassen: Die BBB (Bauern-Bürger-Bewegung) wurde bei den Provinzwahlen im März in allen zwölf Provinzen stärkste Partei. Derzeit kommt sie noch auf sechs bis neun Prozent und läge damit auf dem fünften Rang. Anders als bei Omtzigts NSC sucht man bei der BBB eine klare Abgrenzung zur extremen Rechten vergeblich. Die Partei tritt für die Rückkehr zu einer imaginären Vergangenheit ein, in der Natur und Gesellschaft in Ordnung gewesen seien und sich Nachbarn umeinander gekümmert hätten; dafür steht das Schlagwort noaberschap aus dem ostniederländischen Dialekt. Die BBB-Gründerin Caroline van der Plas hat vor ihrer Politikkarriere für verschiedene Zeitschriften und Verbände der Agrarindustrie gearbeitet. Sie tritt nun vor allem gegen Naturschutzauflagen für Bauern ein.

Die VVD, die bei der vorigen Wahl 2021 mit knapp 21 Prozent stärkste Partei wurde, kann wohl großteils weiter auf ihre Stammwählerschaft aus Unternehmern sowie Haus- und Autobesitzern bauen. Unter der neuen Spitzenkandidatin Dilan Yeşilgöz-Zegerius, Tochter eines 1984 aus der Türkei geflohenen Menschenrechtlers, liegt sie in den Umfragen mit dem NSC etwa gleichauf.

Die bisherigen Koalitionspartner der VVD stehen hingegen vor einem Debakel. Die einstige Bürgerrechtspartei D66 wurde 2021 mit 15 Prozent zweitstärkste Partei, Umfragen zufolge soll sie nun zwei Drittel dieser Stimmen verlieren. Der CDA steht mit zwei bis vier Prozent ebenfalls vor dem Kollaps; beiden Parteien schadet wohl vor allem, dass sie Rutte trotz gegenteiliger Beteuerungen zu einer weiteren Amtszeit verholfen haben.

Yeşilgöz lässt im Wahlkampf durchblicken, dass sie die rechtsextreme PVV (Partei für die Freiheit) als möglichem neuen Partner für die VVD ansieht. Die PVV hatte bereits 2010 Ruttes erste Amtszeit mit einer Minderheitsregierung ermöglicht, kündigte ihre Duldung jedoch nach zwei Jahren auf. Geert Wilders, einziges Mitglied und Alleinherrscher der Partei, reagiert auf die Annäherung mit rhetorischer Mäßigung seiner rassistischen Tiraden. Auch mit seiner jüngsten Attacke gegen Thierry Baudet kommt Wilders den Rechtsliberalen entgegen. Baudet ist der Vorsitzende der Partei FvD (Forum für Demokratie) und Wilders‘ prominentester Konkurrent in der extremen Rechten. Er hatte sich in wirre Aussagen zum 11.September und zur Mondlandung verstrickt; Wilders distanzierte sich mit seinem Spott darüber erstmals öffentlich von Baudet.

Das FvD war der Gewinner der Provinzwahlen 2019. Baudet und andere führende Parteimitglieder haben seither immer unverhohlener Sympathien für Wladimir Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine, Antisemitismus sowie diverse Verschwörungsmythen geäußert. Baudet scheint sich inzwischen ohnehin auf kommerzielle Aktivitäten zu konzentrieren, darunter den Verkauf von teuren Eintrittskarten für Parteiveranstaltungen, Helikopterflügen, Fertigmahlzeiten und seinen Büchern. Mehrere Spaltungen sowie Skandale um Nazi-Symbolik haben die Umfragewerte der Partei auf zwei bis drei Prozent der Stimmen dezimiert.

Auf der linken Seite treten Groenlinks (Grün-Links) und die sozialdemokratische PvdA (Partei der Arbeit) erstmals mit einer gemeinsamen Liste an (GL-­PvdA). Mit ihrem Spitzenkandidaten, dem vormaligen EU-Kommissar Frans Timmermans, liegt sie mit 14 bis 16 Prozent derzeit knapp hinter NSC und VVD – bei der vorigen Wahl kamen beide Parteien zusammengenommen auf knapp elf Prozent. Die PvdA konnte sich bisher allerdings nicht von ihrem Absturz nach der Beteiligung am Kabinett »Rutte 2« von 2012 bis 2017 erholen.

Unter den anderen linken Parteien dürfte lediglich die ökologisch-linke PvdD (Partei für die Tiere) ihre leichte Wachstumstendenz der vergangenen Jahre fortsetzen, dank der Diskussionen über Natur- und Klimaschutz. Die prognostizierten vier bis fünf Prozent wären das beste Ergebnis in der 20jährigen Parteigeschichte. Andere Parteien wie die SP (Sozialistische Partei) können derzeit bestenfalls auf mäßige Verluste und vereinzelte Sitze im Parlament hoffen.

Die Rechte kann insgesamt weiterhin mit einer Mehrheit rechnen; welche möglichen Koalitionen sich ergeben, ist vor allem mit den Neulingen von NSC und BBB unabsehbar. Wie alle rechten Parteien wollen sie die Immigration begrenzen und verkaufen das als (Teil)Lösung für die grassierende Wohnungsnot. Der NSC tritt zudem für eine »bessere Verwaltung« ein.

Daneben geistert das Thema soziale Existenzsicherung durch die Kampagnen fast aller Parteien. Die GL-PvdA-Liste will diese mit höherem Mindestlohn gewährleisten, die Steuerlast zugunsten der ärmeren Gesellschaftsschichten umverteilen und den öffentlichen Nahverkehr sowie Energiesparmaßnahmen finanziell unterstützen. Doch selbst bei einem Wahlerfolg wäre sie auf rechte und liberale Koalitionspartner angewiesen, die die neoliberale Wirtschaftspolitik der vergangenen Jahrzehnte fortsetzen wollen.