Eine progressivere Politik in Polen lässt noch auf sich warten

Tusk gut, alles gut?

Die Hoffnung, dass die Demokratie wieder gestärkt wird, ist nach dem Wahlsieg der Opposition in Polen groß. Aber eine Garantie für progressive Politik ist dieser noch lange nicht.

Man dürfe nun nicht die Fehler wiederholen, welche die nationalkonservative Partei Prawo i Sprawiedliwość (Recht und Gerechtigkeit, PiS) schon einmal an die Macht gebracht hätten – so kommentierte Adrian Zandberg die Hochrechnungen am Abend der polnischen Parlamentswahlen am 15. Oktober, die den Oppositionsparteien zusammen eine Stimmmehrheit versprachen. Zandberg ist Co-Vorsitzender der Partei Lewica Razem (Geeinte Linke), die der Wahlallianz Nowa Lewica (Neue Linke) angehört. Er spielte damit auf die neo­liberale Wirtschaftspolitik der etablierten Parteien an samt ihres arrogantes Herabblickens auf die Verlierer der Systemtransformation nach dem Zusammenbruch des Realsozialismus, auf die viele Expert:innen die Wahlerfolge von PiS in den Jahren 2015 und 2019 zurückführen.

Szymon Hołownia, einer der beiden Vorsitzenden des zentristisch-konservativen Wahlbündnisses Trzecia Droga (Dritter Weg), verkündete hingegen, dass nun Schluss sei mit Verteilung von Geldern nach dem Gießkannenprinzip à la PiS. Trzecia Droga und Lewica wollen zusammen mit dem liberalkonservativen Parteienbündnis Koalicja Obywatelska (Bürgerkoalition, KO) des ehemaligen Ministerpräsidenten Donald Tusk die Regierung bilden.

Nachdem Präsident Andrzej Duda am Abend des 6. November zunächst angekündigt hat, die Regierungsbildung zunächst dem noch amtierenden Ministerpräsidenten Mateusz Morawiecki (PiS) anzuvertrauen, wird es noch einige Wochen dauern, bis die Koalition der drei Oppositionsbündnisse die Regierungsgeschäfte aufnehmen kann. Duda selbst war PiS-Mitglied, bis er sein Amt als Staatsoberhaupt antrat, und gilt als loyaler Vertrauter des Parteivorsitzenden Jaros­ław Kaczyński.

Bei der Bildung der neuen Koalitionsregierung wird es vor allem darauf ankommen, ob die beteiligten Parteien ihre politischen Unterschiede überbrücken können.

Nach der ersten Sitzung des neuen Sejms, des polnischen Unterhauses, die für den 13. November einberufen wurde, hat Morawiecki 14 Tage Zeit, um ein Vertrauensvotum des Parlaments zu erhalten. Da PiS die dafür benötigte absolute Mehrheit jedoch verfehlt hat und alle ihre Versuche, Abgeordnete aus den anderen Fraktionen für sich zu gewinnen, bisher fehlgeschlagen sind, ist zu erwarten, dass Morawiecki damit scheitern wird. Danach geht das Vorschlagsrecht auf das Parlament über, in dem Donald Tusk über eine Mehrheit verfügt.

Mit seiner Entscheidung für die Nominierung des amtierenden Ministerpräsidenten hat Präsident Duda PiS nun zwar einige Wochen Zeit verschafft, Beweise für ihre nepotistischen Regierungspraktiken zu vernichten, aber Morawiecki gleichzeitig in die Situation gebracht, eine demütigende Parlamentsniederlage erfahren zu müssen.

Bei der Bildung der neuen Koalitionsregierung wird es vor allem darauf ankommen, ob die beteiligten Parteien ihre politischen Unterschiede überbrücken können. Bereits zwei Tage nach der Wahl verkündete Władysław Kosiniak-Kamysz, der Vorsitzende der Polskie Stronnictwo Ludowe (Polnische Bauernpartei, PSL), die Teil der Trzecia Droga ist, in Bezug auf die Abtreibungsgesetze in einem Radiointerview, dass »keinerlei weltanschauliche Fragen Teil eines Koalitionsvertrags werden könnten«. Dies löste besonders unter Politi­ker:innen des linken Wahlbündnisses Protest aus, die in ihrem Wahlprogramm eine Legalisierung der Abtreibung bis zur zwölften Schwangerschaftswoche gefordert hatten, eine Regelung, deren Einführung Tusk auch im Wahlkampf versprochen hatte.

Derzeit scheint es jedoch wahrscheinlich, dass die zukünftigen Koalitionsparteien sich ausschließlich darauf einigen werden, anzustreben, den Zustand von vor dem Verfassungsgerichtsurteil im Jahr 2020 wiederherzustellen, mit dem ein nahezu vollständiges Verbot von Abtreibungen in Polen ­verhängt wurde – damit wäre das polnische Abtreibungsgesetz immer noch eines der strengsten in Europa. Zudem ist die Frage noch ­offen, auf welche legale Weise man das Verfassungsgerichtsurteil politisch quasi zurücknehmen kann.

Während sich die drei Bündnisse bei gesellschaftspolitischen Fragen zumindest noch auf Formelkompromisse werden einigen können, ist die Linke mit ihren Positionen zum Sozialstaat vollkommen isoliert. Von den 248 ­Sitzen im Sejm, welche die demokratischen Oppositionsparteien erlangt haben, wird sie nur 26 Abgeordnete stellen. Damit verliert sie im Vergleich zur endenden Legislaturperiode beinahe die Hälfte ihrer Mandate. Teilweise lassen sich diese Verluste durch die hohe Wahlbeteiligung und die große Polarisierung erklären; hinzu kommt, dass traditionelle Wähler:innengruppen der postkommunistischen Linken aus demographischen Gründen verschwinden oder sich dieses Mal für eine andere Partei entschieden haben.

Mit einer Regierung unter Tusk läuft es wohl auf einige gesellschaftspolitische ­Formelkompromisse hinaus, während soziale Fragen hintangestellt werden.

Das Wahlbündnis Lewica setzt sich zusammen aus der Partei Nowa Lewica, die aus einer Fusion aus der sozialliberalen Wiosna (Frühling) und dem postkommunistischen Sojusz Lewicy Demokratycznej (Bündnis der Demokratischen Linken, SLD) hervorgegangen ist, sowie der Partei Lewica Razem, die erst im Jahr 2015 als moderne Alternative zur SLD gegründet wurde. Razem kann trotz des enttäuschenden Gesamtergebnisses einigermaßen zufrieden mit sich sein: Die Partei hat die Zahl ihrer Mandate von sechs auf sieben erhöht, ihre Kandidat:innen haben in vielen Städten auch etablierte Funktio­när:innen der Linken auf besseren Listenplätzen überholen können.

Der engagierte Wahlkampf junger Kandidat:innen, die sich sowohl mit Präsenz in der Region als auch mit konkreter thematischer Schwerpunktsetzung bekannt machten, konnte den Bekanntheitsbonus einiger Parteigranden kompensieren. Die Verschiebung der Machtverhältnisse innerhalb des Bündnisses in Verbindung mit dem ernüchternden Wahlergebnis und der veränderten Struktur der Wählerschaft stellen die Linke in den nächsten ­Jahren vor große Herausforderungen: sie muss die drei unterschiedlichen ­Flügel zusammenhalten, neue Wähl­er:innen gewinnen und sozial- sowie ­gesellschaftspolitische Themen lancieren – und das als Mitglied in einer ­Koalition mit zwei liberal-konservativen Parteien.

Bei Fragen der Rückkehr zu demokratischen Prinzipien in der Justiz und den öffentlich-rechtlichen Medien sowie bei der Abrechnung mit den nepotistischen PiS-Funktionär:innen der vergangenen acht Jahre wird sich die kommende Regierungskoalition einigen können – abgesehen davon läuft es mit einer Regierung unter Tusk wohl auf einige gesellschaftspolitische ­Formelkompromisse hinaus, während soziale Fragen hintangestellt werden. Das Wahlbündnis Lewica wird vor allem darum ringen müssen, sich vom Strategen Tusk nicht an die Wand regieren zu lassen und trotz der geringen Fraktionsstärke eigene Akzente zu setzen, um mit guten Aussichten in die Wahlen auf kommunaler und europäischer Ebene im nächsten Jahr gehen zu können.