Kohei Saito, Philosoph, im Gespräch über Degrowth-Kommunismus

»Ich bin kein naiver Technooptimist«

Der japanische Philosoph Kohei Saito analysiert in seinem Buch »Systemsturz« die Verflechtung von Kapital, Natur und Gesellschaft im Anthropozän anhand unveröffentlichter Notizen von Karl Marx. Ein Gespräch über Wirtschaftswachstum, Greenwashing und Radikalisierung.
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Sie plädieren für die Verbindung zweier Ideen, die bislang kaum zusammengedacht wurden: Degrowth und Kommunismus. Klären wir zunächst Grundlegendes: Es ist kaum bestreitbar, dass das kapitalistische Wirtschaftswachstum der letzten zwei Jahrhunderte uns an den Rand der Klimakatastrophe gebracht hat. Aber was ist der Grund für den offensichtlichen Wachstumszwang im Kapitalismus?

Der Kapitalismus ist ein vom Kapital beherrschtes System. Und was ist Kapital? Marx sagte, dass es eine Bewegung von Geld, Ware, mehr Geld ist. Das Problem mit dem Kapital ist: Es muss ständig wachsen und wachsen, indem es Profit macht. Dabei handelt es sich theoretisch um einen unendlichen Prozess. Wenn das Wachstum im Kapitalismus aufhört, geht dieser zugrunde. Das Problem, das mit dem Drang zum ewigen Wachstum einhergeht, ist: Die Natur ist begrenzt. Die Natur hat verschiedene sogenannte planetarische Grenzen. Wenn das Kapital ewig weiterwächst, gibt es bestimmte Momente, in denen diese Grenzen überschritten werden, was gewaltige Probleme schafft.

Und was schrieb Marx dazu?
Von diesen Einsichten sprach Marx schon im 19. Jahrhundert in seinen späten Lebensjahren und nannte sie »­Risse im Stoffwechsel«. Er hat verstanden, dass der gesellschaftliche Stoffwechsel von Geld, Ware und Kapital mit dem Stoffwechsel der Natur unvereinbar ist. Die beiden Stoffwechsel werden gewissermaßen getrennt und gestört. Es entsteht ein Riss. Marx sagte: Einer der Hauptwidersprüche des Kapitalismus ist, dass er diesen Riss erzeugt, der zu einer ökologischen Krise führt.

Was heißt das für die derzeitige ­Situation?
Bei solchen ökologischen Krisen wie dem Klimawandel ist es offensichtlich, dass der Kapitalismus sie verursacht. Also müssen wir den Sozialismus, eine postkapitalistische Gesellschaft fordern. Daher stelle ich Marx wieder zur Diskussion. Gleichzeitig sollte ich noch etwas über die Notwendigkeit von Degrowth hinzufügen, denn oft werden sozialistische Politik und Konzepte mit Ideen wie »mehr Technologie« und »mehr Produktion« verbunden. Aber ich denke, dass eine weitere Expansion eine Katastrophe für die Umwelt bedeuten würde. Was wir also mithilfe einer sozialistischen Politik tun sollten, ist, mehr zu teilen, anstatt mehr zu wachsen, so dass wir nicht mehr und mehr produzieren und konsumieren müssen.

Ist es nicht möglich, dieses Wachstum in eine verträglichere Richtung zu leiten? Könnten nicht enorme Investitionen in Solar- und Windkraft und E-Mobilität helfen, ein neues, klimaschonendes Feld des Wachstums und der Kapitalakkumulation zu etablieren?
Der Kapitalismus kann nicht aufhören, Reichtum anzuhäufen, weil er ansonsten zugrunde gehen würde, und versucht daher, das Wachstum vom übermäßigen Verbrauch von Energie und Ressourcen zu entkoppeln. Investitionen in erneuerbare Energien und andere grüne Technologien sind eine Möglichkeit. Und wenn diese Entkopplung möglich wäre, könnte der Kapitalismus wie gewohnt weitermachen und trotzdem die Umweltbelastung verringern – das klingt nach der allerbesten Story. Aber sie ist unrealistisch.

Weshalb?
Vielleicht könnten wir das in 100 Jahren schaffen, aber wir müssen wirklich die gesamte Wirtschaft in 20 oder 30 Jahren dekarbonisieren. Das Problem ist jedoch, dass der Kapitalismus zwar in diese grünen Technologien investieren, aber gleichzeitig versuchen wird, beispielsweise größere ­Autos, größere Elektroautos oder elektrifizierte Sportwagen und Ähnliches zu produzieren.
Wir verbrauchen viele Ressourcen, um unnötige Dinge zu produzieren, weil der Kapitalismus in alles investiert, was profitabel ist. Wäre beispielsweise fast fashion mit Bio-Baumwolle ein Weg? Nein, das ist einfach Unsinn. Wir brauchen Bio-Baumwolle, aber keine Altkleiderberge daraus. Das sind aber die Dinge, die der Kapitalismus schafft: Elektrifizierte Sportwagen, umweltfreundlicheres Rindfleisch und dergleichen. Wir müssen unbedingt den unnötigen übermäßigen Konsum reduzieren. Anderenfalls werden wir mit der Investition in die grünen Technologien am Ende mehr Ressourcen und mehr Energie verbrauchen, das Ergebnis wird nicht umweltfreundlich sein. Wir müssen unnötige Dinge reduzieren. Das ist eine Degrowth-Forderung, die aber der Kapitalismus nicht akzeptieren kann. Deshalb plädiere ich für den Degrowth-Kommunismus.

Wie ist es um Negativemissionstechnologien bestellt? Ist vielleicht carbon capture and storage der Schlüssel dazu, die Klimakatastrophe abzuwenden, also die Abscheidung und unterirdische Speicherung von CO2?
Ich streite die Möglichkeit nicht ab. Wenn es funktioniert, ist es eine gute Technologie. Aber die Leute glauben oft, sie müssten nichts tun, weil die Technologien das Problem lösen werden. Die Lösung ist eine andere: Zuerst muss die Idee des Degrowth umgesetzt werden, danach können weiterführende Technologien genutzt werden. Wir sollten das tun, was wir jetzt schon tun können. Technologie kann sonst zu einer Art Ideologie werden, die uns daran hindert zu handeln. Die strahlende Zukunft, die die Technologie verspricht, führt dazu, dass wir untätig bleiben, einfach nichts tun und weiterhin fossile Kraftwerke nutzen. Das untergräbt unser politisches Engagement, unsere Aktionen gegen die ­Klimaungerechtigkeit.

Andere Begriffe für Versuche, die Klimakatastrophe innerhalb des ­kapitalistischen Rahmens zu bewältigen, sind »Externalisierungs­gesellschaft« und »Ökoimperialismus«. Könnten Sie die erklären?
Marx schrieb, dass die zuvor genannten »Risse im Stoffwechsel« ernsthafte Probleme für die Umwelt sowie viel Abfall verursachen würden, was auch schlecht für die Gesellschaft sei. Aber er sagte, dass dies nicht zwangsweise zum Zusammenbruch des Kapitalismus führen würde, weil dieser das Problem verlagern könne. Ein Beispiel: Wir verwenden auch heute noch viel Plastik, PET-Flaschen, Einwegbecher etc. – riesige Mengen an Müll, die wir zu recyceln versuchen. Aber viele wissen nicht, wohin die Abfälle transportiert werden. Tatsächlich landen sie in Ländern wie China. Der Müll wird zum Teil einfach exportiert und verschmutzt anderswo die Umwelt, wie zum Beispiel das Wasser in asiatischen Ländern. Dadurch zeigt sich der genannte Riss einfach an einem anderen Ort. Ein anderes Problem ist die Produktion von Tesla-Autos.

Warum?
Viele sind der Meinung, dass die gut für die Umwelt seien, deshalb werden viele Leute beim Kauf eines solchen Elektroautos zufrieden sein, weil sie etwas Gutes getan haben. Aber tatsächlich werden für die Produktion von Teslas immer noch viele Ressourcen verbraucht, insbesondere aus Lateinamerika, China oder Afrika. Die starke Produktion von Elektroautos im Globalen Norden erfordert eine massive Ressourcengewinnung im Globalen Süden; wir haben es hier also mit einer Art neuem Imperialismus zugunsten der ökologischen Produktion im Globalen Norden zu tun. Doch der Globale Süden leidet unter den Folgen: Er verliert seine eigenen Mineralien und Ressourcen. Ein Teil der Umwelt wird zerstört, Arbeiter werden nicht ausreichend bezahlt und so weiter.

»Viele haben zwar den Neoliberalismus kritisiert, aber es hat sich kaum jemand getraut, Sozialismus oder Kommunismus zu fordern. Jetzt kann sozialistische Politik wieder diskutiert werden.«

Das ist die eigentliche Ironie: Wir tun Dinge, die wir für gut für die Umwelt halten, aber auf Kosten der Umwelt woanders. Das ursprüngliche Problem wird also bloß unsichtbar. Aber ich denke, wir müssen es wieder sichtbar machen und dem ökologischen Imperialismus Einhalt gebieten. Und der einzige Weg – für dieses konkrete Beispiel – besteht darin, die Anzahl der Autos im Globalen Norden zu reduzieren und mehr in den öffentlichen Nahverkehr zu investieren.

Die Notwendigkeit, das ewige Wirtschaftswachstum in Frage zu stellen, leuchtet ein. Da Sie ein neues Konzept des Degrowth vorstellen, scheinen Sie mit früheren Ideen dazu nicht ganz einverstanden zu sein. Was sind Ihre Hauptkritikpunkte?
Nicht alle in der Degrowth-Bewegung, aber einige Strömungen darin – vor allem Anhänger der steady-state economy (bei der dem US-Ökonomen Herman Daly zufolge der Verbrauch von Material und Energie begrenzt und die Weltbevölkerung konstant gehalten wird, Anm. d. Red.) – sind nicht gegen Märkte, nicht gegen Privateigentum und nicht einmal gegen den Kapitalismus, sie sind Antimarxisten. Und sie glauben: Wenn wir erst einmal bestimmte Steuerreformen einführen, wie die CO2-Steuer und vielleicht auch die Reichensteuer, und zusätzlich ein Grundeinkommen oder Ähnliches, wird schon alles gut werden. All diese Dinge sind wichtig, aber ich glaube nicht, dass sie ausreichen. Wir müssen den Kapitalismus wirklich in Frage stellen. Wir müssen das deutlich machen. Ich plädiere nicht einfach für ­Degrowth, sondern für Degrowth-Kommunismus.

Und was bedeutet das?
Dass wir wirklich die Macht des Kapitals, den Markt und das Privateigentum herausfordern sollten, weil sie mit der Bekämpfung der Klimakrise unvereinbar sind. Wir sollten miteinander teilen, wenngleich wir auch nicht alles teilen müssen. Öffentliche Verkehrsmittel sind eine Form des Teilens. Wir könnten ein besseres Bildungssystem haben, das kostenlose Bildung ermöglicht. Ich denke, dass solche Forderungen des Teilens auf sozialistische Weise formuliert werden müssen. Die Menschen können von einer sozialistischen Tradition lernen.

Teile der Degrowth-Bewegung sehen eine Zusammenarbeit auch mit Vertreter:innen rechter Ansichten unkritisch. Wie soll sich eine möglicherweise kommende kommunis­tische Degrowth-Bewegung gegenüber Menschen verhalten, die sich vielleicht Gemeinwirtschaftsinseln wünschen, jedoch solche ethnisch exklusiven Charakters, oder sexuelle Devianz nicht dulden?
Menschen wie Herman Daly, der die Idee einer steady-state economy propagierte, sind im Grunde Antimarxisten. Er glaubte, dass freier Wettbewerb ­erforderlich ist und dass der Markt nach der Einführung einiger Maßnahmen, wie Gesetzesreformen und Verboten von nachteiligen Faktoren, zum Vorteil der Menschen funktionieren wird. Er war also im Grunde ein kapitalistischer Degrowth-Anhänger – und er war auch gegen die Aufnahme von Einwanderern. Er glaubte, dass die Einwanderung in die USA den materiellen Verbrauch erhöhen würde. An der Stelle müssen die linken Ideen der internationalen Solidarität und der Gerechtigkeit für den Globalen Süden in die Degrowth-Debatte einfließen. Aber diese Themen fehlen in der Degrowth-Literatur nicht generell.

Was schlagen Sie vor?
Nur durch die Integration dieser eher sozialistischen linken Idee kann Degrowth wirklich fortschrittlich sein und eine breitere Unterstützung gewinnen. Auf der anderen Seite braucht der Degrowth-Sozialismus die Unterstützung der Gewerkschaften. Auch wenn Degrowth mit dem Kapitalismus unvereinbar ist, kann die Degrowth-Bewegung ohne die Arbeiterbewegung niemals die kapitalistische Produktionsweise in Frage stellen. Ich unterstütze zum Beispiel Menschen wie Greta Thunberg voll und ganz. Sie ist meiner Ansicht nach eine Art Degrowth-Vertreterin, aber ihre Politik formuliert noch nicht unbedingt sozialistische Ideen.
Es gibt aber Möglichkeiten, voneinander zu lernen. Beispielsweise ist eine Verkürzung der Arbeitszeit für beide Seiten gut: Es ist gut für die Umwelt, aber auch gut für die vielen Arbeiter. Vor allem in Ländern wie Japan, wo die Menschen wirklich zu hart arbeiten. Ich denke, eine solche Forderung kann von beiden Seiten gestellt werden. Wir können sogar eine Verringerung der Zahl der Autos und gleichzeitig eine Steigerung der Produktion von Bussen und Zügen fordern; auch die Industriearbeiter könnten einen solchen Wandel als etwas Fortschrittliches akzeptieren.

Sie kritisieren andere, neu aufkommende kommunistische Ideen. Was ist etwa an Aaron Bastanis »Luxuskommunismus« fragwürdig, der sich auf den technologischen Fortschritt verlässt?
Nehmen wir Ideen wie »Privatjets für alle« mit Hilfe neuer Technologien. Das ist inakzeptabel, weil es nicht sehr ­radikal und nicht emanzipatorisch ist. Es akzeptiert einfach unkritisch den kapitalistischen Wert des Überflusses und des übermäßigen Wohlstands. Wir würden einfach mehr konsumieren und immer abhängiger von dem werden, was große Unternehmen produzieren, wir würden abhängige Verbraucher bleiben. Das befreit uns nicht wirklich. Es stärkt uns nicht.
Also fordere ich im Rahmen des Degrowth, mehr Kontrolle zurückzugewinnen, da, wo sie jetzt die Konzerne haben. Wir sollten mehr Autonomie außerhalb des Marktes haben, ohne Konsumwaren, ohne Geld – in einem Raum des Antikapitalismus. Wir können zwar nicht mehr plötzlich eine Revolution herbeiführen, aber wir können damit beginnen, einen Raum zu schaffen, in den die Macht des Geldes, der Ware und des Kapitals nicht eindringt. Diesen Bereich der Commons gilt es immer mehr zu erweitern, was zu mehr Raum für revolutionäre Politik führen würde.

Die dann in den Kommunismus führt?
Was ich mit Kommunismus meine, hat nichts mit der Sowjetunion zu tun, und es geht nicht darum, dass die kommunistische Partei alles beherrscht. Der Kapitalismus ist ein vom Kapital dominiertes System – endloses Profitmachen, endlose Expansion. Der Kommunismus ist eine Gesellschaft, die durch gemeinsamen Reichtum, durch Commons, charakterisiert wird. Unter den neoliberalen Reformen wurde überall alles zur Ware. Früher war Bildung kostenlos, heute muss man dafür bezahlen. Viele Dinge wie Wasser und Strom wurden privatisiert. Für medizinische Versorgung muss man mehr bezahlen.
Was ich mit dem Begriff Kommunismus meine, ist eine Dekommodifizierung des Reichtums. Die Folge wäre, dass sich die Lebenssicherheit der Menschen erhöht. Sie würden nicht mehr so viel Zeit am Arbeitsplatz verbringen, um Geld zu verdienen, sondern mit anderen Aktivitäten: Vielleicht tun sie etwas Gutes für die Umwelt, für die Gemeinschaft, genießen Zeit mit Freunden und Familie. Diese Vorteile einer Degrowth-Gesellschaft können zur Verbesserung des Wohlbefindens führen, ohne dass der Material- oder Energieverbrauch notwendigerweise steigt.

Soll der Degrowth-Kommunismus auch mit einem Rückgang der Produktivität einhergehen, oder würden wir hier eine Art Entkopplung ­erleben?
Nochmals: Ich verlange nicht die Rückkehr zur Natur. Ich lehne hilfreiche Technologien nicht ab. Wir brauchen auf jeden Fall mehr Investitionen in ­erneuerbare Energien. Ich bin also nicht gegen Technologien, aber ich bin kein naiver Technooptimist wie Aaron Bastani. Wie gesagt, wir müssen reduzieren, was nicht notwendig ist, was übertrieben ist. Wir haben zu viele Autos, es gibt zu viel fast fashion. All das zu reduzieren, ist die beste Möglichkeit, auch die ökologischen Auswirkungen zu verkleinern.
Aber das würde uns nicht arm machen. Derzeit müssen wir so viel Zeit in die Arbeit stecken, um diese unnötigen Dinge zu konsumieren. Wenn man beispielsweise ein sehr schönes Auto haben möchte, muss man hart arbeiten. Aber ich denke, jeder kann auch mit ­einem einfachen Auto zufrieden sein, das mit anderen geteilt wird. Wir müssen also neu definieren, was wir wollen, was wir produzieren und wie wir produzieren. Dies sind weitere Dinge, zu denen Degrowth meiner Meinung nach wirklich beitragen kann.

Sie beschreiben ja, dass etliche soziale Bewegungen auf der ganzen Welt den Keim des Degrowth-Kommunismus in sich tragen. Man könnte hier aber polemisch entgegnen: Eine ganz andere Degrowth-­Bewegung ist noch viel erfolgreicher. Sie richtet sich gegen Menschen, die als überflüssig oder als Ballast angesehen werden. In den USA ist ein Song Nummer eins der Charts, der die Belastung der arbeitenden Bevölkerung durch fettleibige Sozialschmarotzer besingt; und in Japan hatte der Wirtschaftsprofessor Yusuke Narita mit seiner Bemerkung, dass das Demographieproblem durch einen Massensuizid der älteren Menschen gelöst werden könne, gerade bei der Jugend großen Erfolg. Wird der Planet, bis wir Anhänger solcher Ideen vom menschenfreundlichen Degrowth-Kommunismus überzeugt haben, nicht unbewohnbar sein?
Es gibt schon sehr extreme Standpunkte wie jenen von Narita, und ich befürchte, dass sich diese Tendenzen desto mehr zuspitzen, je mehr sich gesellschaftliche Krisen zuspitzen. Je mehr Mängel und Inflation es gibt, desto härter wird der Wettbewerb um Ressourcen und Lebensräume. In so einer Mangelgesellschaft könnten Leute durchaus auf die Idee kommen, dass wir uns Rechte, ­Ansprüche oder Sozialleistungen nicht mehr für jeden leisten können und strenger auswählen sollten, wem was zusteht.

»Die strahlende Zukunft, die die Technologie verspricht, führt dazu, dass wir untätig bleiben, einfach nichts tun und weiterhin fossile Kraftwerke nutzen.«

Dann könnte man auf die Idee kommen, die Alten, Beeinträchtigten, Frauen oder Migranten einfach zu entsorgen oder ihnen nichts mehr zukommen zu lassen. Um diese Zuspitzungen zu ­verhindern, müssen wir sowohl die Verschärfung der ökologischen Krisen verhindern als auch sozialistische und kommunistische Ideen kultivieren, solange die Lage noch nicht so ernst ist: Ideen wie gegenseitige Hilfe, Solidarität und Menschenrechte.
Vor allem in einem Land wie Japan sind die Menschenrechte, zumindest als normative Idee, sehr schwach verankert. Wir könnten in eine sehr ge­fährliche Phase kommen. Deshalb ist das Zeitfenster der nächsten zehn Jahre so wichtig, da sich die Krisen aller Wahrscheinlichkeit nach verschlimmern werden. Ich hoffe, mit meinem Buch einen Grundstein für ein Umdenken legen zu können, um von links den kommenden Herausforderungen entgegenzutreten.

Sie haben über eine halbe Million Bücher in Japan verkauft und Ihre Ideen werden im bürgerlichen Feuilleton diskutiert. Wie erklären Sie sich diesen Erfolg und wie gehen Sie damit um? Ist es ein Anfang von etwas Neuem?
Einerseits war ich angenehm überrascht von der Unzufriedenheit der Leute mit dem Ist-Zustand. Sie wollen große Ideen! Das Buch kam während der Pandemie raus, als viele unzufrieden mit den Antworten der Regierung auf die Covid-19-Krise waren.
Sie wollten etwas anderes, und ich glaube, dass meine radikalen Vorschläge deswegen so viel Aufmerksamkeit bekamen. Das finde ich gut, denn so etwas hat in Japan jahrelang gefehlt. Viele haben zwar öffentlich den Neoliberalismus kritisiert, aber es hat sich kaum jemand getraut, Sozialismus oder Kommunismus zu fordern. Jetzt ist diese Tür offen, und sozialistische Politik kann wieder diskutiert werden. Gleichzeitig ist mein bisheriger Erfolg ein Zeichen für meinen Exotenstatus. Mein Buch war, weil ich darin vom Sozialismus schreibe, so anders, dass ich in eine Marktnische gestoßen bin.
Im Kapitalismus bekommst du mehr Aufmerksamkeit, wenn du dich von anderen unterscheidest. Das deutet nun leider auch darauf hin, dass die Umwelt- und Arbeiterbewegungen in Japan noch nicht sehr relevant sind. Wenige fordern radikale Änderungen. Bei uns gibt es keine Extinction Re­bellion, keine Letzte Generation, keine Gruppe wie Just Stop Oil. Ich hoffe, mit meinem Buch junge Leute in Japan inspirieren zu können, gemeinsam eine neue Bewegung aufzubauen. Es wird ein erster Schritt hin zu einer neuen Politik sein, aber dem werden viele weitere folgen müssen.

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Kohei Saito ist Philosoph, promovierte an der Humboldt-Universität Berlin und arbeitet seit 2022 als Professor an der Universität Tokio zu den Bereichen Ökologie, Wachstumskritik und Politische Ökonomie. Er ist Mitheraus­geber der Marx-Engels-Gesamtausgabe, die viele bisher un­veröffentlichte Notizbücher von Marx zur Naturwissenschaft ­enthält. Saito wurde 2018 als erster Japaner und bislang jüngster Preisträger mit dem Deutschen Gedächtnispreis für marxistische Forschung aus­gezeichnet. Sein 2020 veröffentlichtes Buch »Capital in the ­Anthropocene« wurde in Japan überraschend zu einem Best­seller. Im ­August erschien es in deutscher Übersetzung unter dem Titel »Systemsturz. Der Sieg der Natur über den Kapitalismus«.