Nachruf auf den Wirtschaftshistoriker Thomas Kuczynski

Der Belesene

Eine Erinnerung an den Wirtschaftshistoriker Thomas Kuczynski, der im Alter von 79 Jahren gestorben ist.

Am 19. August ist Thomas Kuczynski in Berlin gestorben. Er wurde 1944 in London in eine jüdischstämmige, sozialistische Intellektuellenfamilie hineingeboren, die vor den Nazis aus Deutschland geflohen war. Seine Eltern waren der Wirtschaftswissenschaftler Jürgen Kuczynski und die Ökonomin Marguerite Kuczynski, sein Großvater war der Ökonom Robert René Kuczynski. Seine Tante Ursula arbeitete zum Zeitpunkt seiner Geburt unter dem Decknamen »Sonja« für die Sowjetunion als Agentin – später sollte sie als Schriftstellerin Ruth Werner berühmt werden.

1945 remigrierte die Familie nach Ostberlin. An der Hochschule für Ökonomie in Berlin-Karlshorst studierte Thomas Kuczynski Statistik und arbeitete später am Institut für Wirtschaftsgeschichte der Akademie der Wissenschaften der DDR (AdW), dessen Direktor er bis zur Schließung des Instituts 1990/1991 war.

Die Fortsetzung seiner wissenschaftlichen Karriere war dem Marxisten im wiedervereinigten Deutschland versagt. Er war »seither in prekären Arbeitsverhältnissen« tätig, »zuweilen erwerbslos und zuweilen freier Publizist«, wie er selbst schrieb.

Selbst wenn man mit Thomas Kuczynski in der Sache stritt, hatte man es mit einem heiteren und freundlichen Menschen zu tun, mit einem Wissenschaftler dazu, der klar formulierte und ein aufrechter Linker war.

Kuczynski war der Autor von bedeutenden Studien zur Politischen Ökonomie, wirkte als Herausgeber kritischer Editionen von Marx-Schriften (zum Beispiel des ersten Bands von »Das Kapital«, 2017) und erstellte eine Studie zu den Entschädigungsansprüchen von Zwangsarbeitern im »Dritten Reich«, in der er zeigte, dass die Bundesrepublik als dessen Rechtsnachfolger den Opfern rund 180,5 Milliarden D-Mark schuldig sei. 2004 korrigierte er diese Zahl im Buch »Brosamen vom Herrentisch« auf 228 Milliarden D-Mark (cirka 116 Milliarden Euro). Die Bundesrepublik kam dennoch mit gerade einmal zehn Milliarden D-Mark davon.

Kuczynski war kein trockener, sondern ein ungemein heiterer Intellektueller. Er war niemand, der vom Schreibtisch aus Politik machte. Lieber tourte er als Darsteller mit dem Stück »Karl Marx: Das Kapital« der Gruppe Rimini Protokoll um die halbe Welt. Der ungemein Belesene setzte sich dafür ein, dass die rund 70.000 Bände umfassende Privatbibliothek aus dem Besitz der Familie 2003 in die Zentral- und Landesbibliothek Berlin überführt werden konnte, um sie der Wissenschaft zugänglich zu machen.

Selbst wenn man mit Thomas Kuczynski in der Sache stritt, hatte man es mit einem heiteren und freundlichen Menschen zu tun, mit einem Wissenschaftler dazu, der klar formulierte und ein aufrechter Linker war. Diese Zeitung ist ihm in besonderer Weise verpflichtet. Kuczynski übernahm 1997 im Arbeitskampf der Mehrheit der damaligen Redaktion gegen die Geschäftsleitung der Jungen Welt eine Vermittlerrolle ein. Die Einigung scheiterte, aber aus diesem Arbeitskampf heraus entstand die ­Jungle World.