31.07.1997
Gerhard Branstners Buch »Revolution auf den Knien oder Der wirkliche Sozialismus«

Was Marx vergessen hat

.... trägt eine Broschüre von Gerhard Branstner nach. Wie die Menschheit zu retten ist und andere Tips

Im allgemeinen sind ja Autoren unschuldig daran, wie ein Verlag ihre Produkte anpreist, was auf Waschzetteln, Umschlagseiten usw. den Käuferinnen und Käufern zugemutet wird. Aber Gerhard Branstner glaubt offenbar wirklich, den Stein des Weisen gefunden zu haben, jedenfalls verkündete er selbst bei der Vorstellung seines Buches "Revolution auf den Knien oder Der wirkliche Sozialismus", was der Verlag auf die Rückseite des Buchumschlags gedruckt hatte: "Wer dieses Buch gelesen hat, der weiß: Erstens, wieso Marx und Darwin die Welt jeweils nur halb erfaßt haben und wie wir sie ganz erfassen können. Zweitens, woran die Welt des 'realen Sozialismus' in Wahrheit gescheitert ist, und was der Kapitalismus nun davon hat. Drittens, wie unsere Welt vor dem drohenden Untergang gerettet werden kann, und was der Haken dabei ist. Überdies wird dem Leser mit der 'Soziologischen Transfermatik' eine wirklich neue Wissenschaft entdeckt, was ja auch nicht jeden Tag in jedem Buch vorkommt." Das hat geradezu Dühringsches Format.

Aber das Büchlein enthält nicht nur Unsinn. Die Behauptung, der Sozialismus ("der wirkliche Sozialismus") sei nicht das Ziel, sondern das Mittel (zur "Rettung der Menschheit"), mithin lediglich "eine unerläßliche Maßnahme", halte ich für eine der klügsten, die ich den letzten Jahren gelesen habe. Auch sollten all jene, die den Realsozialismus noch immer als unschuldiges Opfer einer Weltverschwörung betrachten, diese Aussage Branstners überdenken: "Die Sowjetunion hat die schlimmsten äußeren Gefährdungen überstanden, die Interventions- und Bürgerkriege und den Zweiten Weltkrieg, nur die innere Gefährdung, die Selbstgefährdung, hat sie nicht überstanden." Schon Lenin war der Auffassung, die einzigen, die den Kommunismus zugrunderichten könnten, seien die Kommunisten selbst.

Der Satz findet sich in dem Aufsatz "Verbürgerlichung - das Verhängnis der sozialistischen Parteien". Tatsächlich aber meint Branstner hinsichtlich des Realsozialismus, daß Verbürgerlichung "der wesentliche Grund seines Scheiterns" gewesen sei. Die Ursachen bleiben weitgehend im dunklen, müssen im dunklen bleiben, weil er Verbürgerlichung allein als Reflex (real)sozialistischer Verhältnisse betrachtet, auch die in Arbeiterparteien des Westens stattgefundene als einen "merkwürdigen Prozeß" der "Rückübertragung" aus dem Realsozialismus. Das heißt nun wirklich, den Karren vor das Pferd zu spannen, haben sich doch schon ganze Heerscharen von Sozialisten vor dem Ersten Weltkrieg sogar mit dem Problem der Verbürgerlichung des Proletariats (und nicht seiner Parteien und Organisationen) auseinandergesetzt, wenn auch nicht mit der hinreichenden Konsequenz die sozialökonomischen Ursachen und Bedingungen dieses - mehr oder minder unabhängig vom guten oder bösen Willen der Beteiligten ablaufenden - Prozesses aufgezeigt.

Wenn er meint, "mit den Vorständen fängt es immer an", so ist das zwar richtig in dem Sinne, daß der Fisch immer am Kopf anfängt zu stinken. Aber ist das die Schuld des Kopfes? Oder liegt es nicht vielmehr in der Natur der Fische und der Parteien? Warum wählt denn die Basis immer wieder solche Vorstände? Diese Frage läßt Branstner unbeantwortet, er stellt sie nicht einmal. Das ist kein Wunder, denn seiner Meinung nach verstand Immanuel Kant "Aufklärung als den Ausgang des Menschen aus seiner Unmündigkeit". Es war aber der Ausgang aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit, von der Kant sprach, und die ganz und gar nicht akademische Attacke Kants gegen Faulheit und Feigheit als wesentliche Quellen selbstverschuldeter Unmündigkeit scheint mir heute noch lesenswert, gerade im Hinblick auf die gelobte Basis.

Auch scheint sich Branstner bei manchem über die Konsequenzen seiner Aussagen nicht im klaren zu sein. Anläßlich seiner Polemik gegen die Ungleichheit stellt er fest: "Der sittlich verelendete Mensch ist aber unfähig, der Zerstörung seiner Existenzgrundlagen entgegenzuwirken. Der Teufelskreis ist geschlossen. Das ist die Krise des späten Kapitalismus, seine letzte Krise." Das wäre dann aber nicht die Krise des Spätkapitalismus, sondern die der Menschheit, denn andere als die sittlich Verelendeten tauchen in diesem Branstnerschen Teufelskreis allenfalls appellativ, aber nicht in concreto auf.

Das trifft auch auf die "Naturvölker" (Herder) zu, deren Verhalten er der sittlichen Verelendung entgegensetzt, ohne allerdings zu fragen, warum sich andere so anders verhalten. Wieder spannt er den Karren vor das Pferd, wenn er meint: "Als die ökonomische Differenzierung der Gesellschaft zur historischen Notwendigkeit wurde, mußte diese Differenzierung notwendig auch moralisch gerechtfertigt werden..." Was notwendig ist, bedarf zwar der Klärung und Erklärung, aber nicht der Rechtfertigung, schon gar nicht der moralischen. In der moralischen Rechtfertigung spricht sich zumeist nur das schlechte Gewissen jener aus, die wissen, daß das von ihnen als notwendig Behauptete gar nicht notwendig ist.

Obgleich Branstner immer wieder Heiterkeit verlangt, auf ein heiteres Herangehen und Argumentieren besonderen Wert legt, ist das Büchlein ausgesprochen unheiter geschrieben. Der Kapitalismus wird moralisierend und ohne sozialökonomischen Sachverstand verteufelt, ideologische Gegner im eigenen "Lager" werden grundsätzlich mit Invektiven und Etikettierungen belegt, also ohne jede Souveränität behandelt.

Besondere Blüten treibt Branstners Wille zur Witzigkeit in seinen "Merksätzen". Der wohl schlimmste: "Wer denkt, denkt links." Anläßlich derart selbstmörderischer (und jegliche historische Erfahrung ignorierende) Arroganz könnte einem direkt der Titel einer Wahlkampfbroschüre aus dem Jahre 1932 in den Sinn kommen: "Ist die Linke noch das Rechte?"

Gerhard Branstner: Revolution auf den Knien oder Der wirkliche Sozialismus. Verlag am Park, Berlin 1997, 137 S., DM 19,80