In Hollywood wird gestreikt, auch bei den Teilnehmern von Reality-TV-Shows regt sich Unmut

The Reality-TV-Show Must Go On

Wegen der Streiks von Schauspielern und Drehbuchautoren sendet die US-amerikanische Medienbranche vermehrt Reality-TV-Formate und Live-Übertragungen von Sportveranstaltungen. Doch auch beim Reality TV äußern Teilnehmer Unmut über die Arbeitsbedingungen und organisieren sich, wie derzeit bei der Sendung »Love Is Blind«.

Die Film- und Fernsehindustrie in den USA wird derzeit von einem großangelegten Streik sowohl der Schau­spiel­er:in­nen als auch der Dreh­buch­autor:in­nen lahmgelegt. Da die rund 1.800 Fernsehsender des Landes irgendetwas senden müssen, ist der Markt für Programminhalte, die ohne diese beiden Berufsgruppen auskommen, merklich in Bewegung geraten.

So versuchen einige Sender, ihre Sendezeit mit Live-Übertragungen von Sportveranstaltungen zu füllen, auch wenn die acht wichtigsten Gewerkschaften von Profisportler:innen in den großen Sportligen sich ausdrücklich mit dem Streik der Writers Guild of America (WGA) solidarisiert haben. Ebenfalls über gesteigerte Aufmerksamkeit freuen können sich Wrestling-Promotions wie All Elite Wrestling (AEW) oder die World Wrestling Entertainment (WWE), da deren Autor:innen keine Gewerkschaftsmitglieder sind. So startete AEW gerade eine neue zweistündige allsamstagabendliche Live Show namens »Collision«.

Anders sieht es im Bereich Reality TV aus. Auch hier hätte man mit Zuwächsen infolge der Streiks rechnen können. Stattdessen befindet sich die Branche in einer Krise. Das liegt zum einen daran, dass zwar die Teil­nehm­er:innen der Shows in der Regel keine Schau­spiel­er:innen sind, die Moderato­r:innen oder Jurymitglieder jedoch häufig schon. Zwar fallen Reality-TV-Produktionen in der Regel nicht unter den ­Tarifvertrag mit der Alliance of Motion Picture and Television Producers (­AMPTP), um den gerade gerungen wird. Viele Schauspieler:innen scheuen sich jedoch davor, von diesem Schlupfloch Gebrauch zu machen, weil das die Verhandlungsposition ihrer Gewerkschaft, der Screen Actors Guild – American Federation of Television and Radio Artists (SAG-AFTRA), schwächen könnte.

Ein anderer, wahrscheinlich deutlich wichtigerer Grund besteht darin, dass der diesjährige Streik der Dreh­buch­autor:innen anders als jener im Winter 2007/2008 in eine Phase der allgemeinen Konsolidierung durch Kosteneinsparungen, Neuaushandlung von Verträgen und Marktbereinigung in der Fernsehbranche fällt. Die Produktion einer Reality-Fernsehsendung ist zwar in der Regel günstiger als die einer vollständig auf einem Drehbuch beruhenden Sendung, umsonst jedoch auch nicht.

Was das Mediengeschäft heute sehr von dem vor 15 Jahren unterscheidet, ist das Streaming. Netflix wurde hier 2007 zum Vorreiter, gegründet worden war die Firma zehn Jahre zuvor noch als Alternative zu Videotheken, bei der man sich DVDs per Post zuschicken lassen konnte. 2022 überholten in den USA die Streaming-Dienste erstmals das Kabelfernsehen bei der wichtigsten Kennziffer, den insgesamt gesehenen Stunden. Die Medienbrache, in der gerade Arbeitskämpfe stattfinden, ist eine grundlegend andere als noch vor einigen Jahren.

Der Streaming-Markt wird weitgehend von vier Firmen dominiert, deren fünf Plattformen zusammen auf einen Marktanteil von 80 Prozent kommen. Amazon Prime mit 21 und Net­flix mit 20 Prozent liegen fast gleichauf an der Spitze. Zählt man jedoch die 13 Prozent von Disney Plus und die elf Prozent von Hulu zusammen, dann steht die Walt Disney Company, der beide Plattformen gehören, vorne. Max (ehemals HBO Max), der Streaming-Dienst von Warner Brothers Discovery, liegt bei 15 Prozent.

Laut einer Umfrage des Unter­nehmens Civic Science schaut die Hälfte der US-Amerikan­er:innen mindestens eine Stunde Reality-TV pro Woche.

Während Amazon und Netflix sich bislang ganz auf das Streaming konzentrieren, betreiben Walt Disney und Warner Brothers Discovery mit ABC und ESPN beziehungsweise CNN und TNT auch wichtige lineare Fernsehnetzwerke. Die anderen großen Sendernetzwerke NBC, CBS und Fox betreiben mit Peacock, Paramount Plus und Tubi ebenfalls ambitionierte Streaming-Plattformen.

Vor allem Netflix bekommt zu spüren, dass die seit langem etablierten ­Giganten der Unterhaltungsindustrie mit Macht in den Streaming-Markt drängen. Zwar konnte der beliebte Streaming-Dienst in den vergangenen Monaten die Zahl der Abonnent:innen merklich steigern, dieser Anstieg wurden jedoch fast ausschließlich dadurch generiert, dass das Nutzen von Konten durch mehrere Haushalte, das sogenannte account sharing, unterbunden wurde. Anstatt neues Publikum zu werben, wird also lediglich das bereits bestehende effektiver zur Kasse gebeten.

Aller Veränderungen zum Trotz ist Reality-TV nach wie vor ein essentieller Bestandteil des US-amerikanischen Fernsehangebots. Aber auch dort machen die Streaming-Dienste dem line­aren Fernsehen Konkurrenz. Laut einer Umfrage des Unternehmens Civic Science schaut die Hälfte der US-Ameri­ka­n­er:innen mindestens eine Stunde Reality-TV pro Woche, und Daten des Portals Gitnux zufolge machen Reality-Fernsehsendungen in der Primetime 60 Prozent des linearen Programms aus. Mit Donald Trump hat es ein Reality-TV-Star sogar zum Präsidenten des Landes gebracht.

Umso erstaunlicher ist daher, wie wenig bislang über die Arbeitsbedingungen in der Branche gesprochen wurde. Das hat sich geändert, als das zu Axel Springer gehörende Online-Magazin Insider (vormals Business Insider) am 18. April einen Artikel veröffentlichte, in dem ehemalige Kandi­dat:in­nen der Netflix-Sendung »Love Is Blind« schwere Vorwürfe gegen die Produktionsfirma Kinetic Content erhoben. In der Sendung, die in Deutschland unter dem Namen »Liebe macht blind« ausgestrahlt wird, sollen die teilnehmenden Singles sich daten und verloben, ohne einander gesehen zu haben. Am Ende stehen die Paare vor dem Traualtar und es wird mit Spannung erwartet, ob auch wirklich beide »ja« sagen. In der Hälfte der Fälle kommt es anders und das Drama ist perfekt.

Im Beitrag von Insider über die Sendung war von »emotionaler Kriegsführung« die Rede, von 20-Stunden-Arbeitstagen und davon, dass die Produ­zent:innen auf Gefühlsausbrüche der Kandidat:innen regelrecht lauern. Die wohl schwersten Vorwürfe erhob Da­nielle Ruhl, eine Kandidatin der zweiten Staffel: »Ich habe ihnen immer wieder gesagt, dass ich mir selbst nicht vertraue und dass ich schon früher versucht habe, mich umzubringen, dass ich Selbstmordgedanken habe und glaube, ich kann mit der Sendung nicht weitermachen.«

Sie blieb jedoch dabei, obwohl sie nach eigener Aussage eine schwere Zeit hatte. Am Ende der Staffel gehörte sie sogar zu den sogenannten Sieg­er:in­nen, denn sie und Nick Thompson, ein anderer Kandidat, heirateten im Juni 2021. Ihre Ehe hielt jedoch kaum mehr als ein Jahr. Im August 2022 gaben sie bekannt, dass sie die Scheidung beantragt haben. Vier Tage zuvor hatte auch das andere »Siegerpaar« der Staffel seine Trennung bekannt gegeben.

Zu den fragwürdigen Praktiken, die von den ehemaligen Kandidat:innen beschrieben werden, gehören Schlafentzug, das Vorenthalten von Wasser und fester Nahrung sowie das gezielte Ermutigen zum Alkoholkonsum. »Ich glaube, sie machen das mit Absicht«, sagt Danielle Drouin, die an der ersten Staffel teilnahm. »Sie versuchen, dich zu brechen. Sie wollen, dass deine Nerven blankliegen.« Kinetic Content bestreitet die Vorwürfe.

Reality Shows umgehen Tarifverträge, indem sie behaupten, kein Drehbuch zu haben, obwohl sie ganz klar einem Skript folgen, und sie ködern ihre Teil­nehm­er:in­nen mit der Hoffnung auf eine Karriere als Promi.

1.000 US-Dollar die Woche sollen Kandidat:innen für ihre Teilnahme bekommen haben. Vertraglich verpflichteten sie sich bis zu acht Wochen lang rund um die Uhr aufgenommen werden zu können. Jeremy Hartwell, ein anderer Teilnehmer von »Love Is Blind«, stützt darauf seine Klage gegen das Unternehmen und argumentiert, die Kandidaten seien »vorsätzlich falsch« als unabhängige Auftragnehmer und nicht als Arbeitnehmer eingestuft worden. »Was bedeutet«, so die Zusammenfassung von Hartwells Argument im Insider, »dass ihr wöchentliches Gehalt etwa 7,14 Dollar pro Stunde entspricht – weniger als die Hälfte des Mindestlohns von 15 Dollar in Kalifornien, wo die Dreharbeiten nach der ersten Staffel stattfanden.«

Abhilfe schaffen will nun das Unscripted Cast Advocacy Network (UCAN), das Nick Thompson, Jeremy Hartwell, und die Psychologin Isabelle Morley gegründet haben. Außer fairer Bezahlung fordern sie unter anderem psychologische Betreuung und Regulierungen, die es ermöglichen, missbräuch­liches Verhalten ohne Furcht vor Strafe transparent zu machen.

Dass das UCAN sich nur wenige Tage nach dem Bericht von Insider der Öffentlichkeit präsentierte, war ein gut gewählter Zeitpunkt dafür. Den drei Grün­der:innen dürfte zudem nicht unge­legen kommen, dass das bislang eher überschaubare Netzwerk ihnen reichlich öffentliche Aufmerksamkeit bringt. Thompson sagt, sein Auftritt im Reality TV habe ihn praktisch ruiniert. Seine Karriere in der Softwareindustrie sei zerstört, weil niemand ihn mehr ernst nehme. Eine neue Stelle als geschäftsführender Leiter einer Stiftung kommt ihm da sicher gut zupass.

Doch auch wenn man vielleicht die Motive von Thompson, Hartwell und Morley hinterfragen kann, ist ihre Kritik berechtigt. Reality Shows umgehen Tarifverträge, indem sie behaupten, kein Drehbuch zu haben, obwohl sie ganz klar einem Skript folgen, und sie ködern ihre Teil­nehm­er:in­nen mit der Hoffnung auf eine Karriere als Promi. Miserable Arbeitsbedingungen, schlechte Bezahlung und das Risiko psychischer Langzeitschäden werden von den Kandidat:innen so als Inves­tition in eine erhoffte goldene Zukunft in Kauf genommen. Diese Rechnung geht meist nicht auf. Bekanntheit und mediale Aufmerksamkeit tendieren zur Kurzfristigkeit; auf Dauer lässt sich die Miete damit nicht bezahlen.