Es hagelt Eigenbedarfskündigungen in Berlin und plötzlich kämpfen Söhne gegen Söhne

Der analoge Mann

Aus Kreuzberg und der Welt: Eigenbedarf

»Besitzer sterben. Leute erben. Kinder wollen nach Berlin. Soll’n probier’n, zu studier’n. Oder um die Häuser zieh’n (…). Was sie aus ihrem Leben warf, war Eigenbedarf. Scheiß Eigenbedarf. Dein scheiß Bedarf raubt mir den Schlaf (…). Der Münchner Sohn will hier wohn’, aber das tun wir ja schon. Ihm egal: Kündigung. Er will nicht nach Schwabing, sondern Kreuzberg (…). Die Häuser denen, die drin wohn’. Und nicht den Erben und ihrem Sohn.«

So lautet der Text des in der vorigen Woche von der Band Cremant Ding Dong veröffentlichten Songs »Eigenbedarf«. Ist es nur Zufall, dass ich jetzt dauernd von Leuten höre, die wegen Eigenbedarf ihre Wohnungen verlassen müssen, oder häufen sich die Fälle allgemein?

Es macht mich jedes Mal unheimlich wütend. Neulich erzählte mir eine Tanzpartnerin mitten auf der Tanzfläche, dass sie ihre Wohnung verlassen muss, in der sie zehn Jahre gewohnt hatte. Sie war ganz verzweifelt und hatte auch noch keine neue Wohnung gefunden. Sie tat mir leid. Selbst der Tanz, der sonst alle Sorgen vertreibt, war beschädigt.

Für eine faire Miete wohnte die Frau in drei Zimmern auf zwei Stockwerken mit kleiner Dachterrasse. Als normal verdienende Person so zu leben, scheint heutzutage fast unmoralisch.

Und dann hat mir vorige Woche eine Bekannte einen Plattenspieler von ihrer Tante angeboten, die ihre Wohnung verlassen muss, weil jetzt der Sohn der Vermieter dort wohnen soll. Bei 30 Grad fuhr ich mit dem Fahrrad nach Schöneberg. Als ich mein Fahrrad in den Hinterhof schob, nahm mir die feuchte Luft fast den Atem: So viele Pflanzen wie in einem Tropenhaus waren dort angepflanzt. Berlin blüht nach dem vielen Regen in diesem Sommer in allen Farben. Als ich im vierten Stock ankam, saß die Frau in meinem Alter auf gepackten Kisten. Ihr Umzug war am nächsten Tag und sie war froh, noch etwas von ihrem Zeug loszuwerden. Nach 20 Jahren auf 100 Quadratmetern muss sie sich verkleinern. »Zum Glück habe ich etwas am Stadtrand gefunden«, sagte sie.

Für eine faire Miete wohnte sie hier in drei Zimmern auf zwei Stockwerken mit kleiner Dachterrasse. Als normal verdienende Person so zu leben, scheint heutzutage fast unmoralisch. Als wäre es verkehrt, wenn keine Millionär:innen in solchen Wohnungen wohnten. Dabei ist es selbstverständlich einfach nicht maßvoll und auch unmoralisch, Millionär:in zu sein. Julias Ex-Freund Jimmy, der vor vielen Jahren nach München gezogen war, hat sich vor zehn Jahren eine kleine Eigentumswohnung in Steglitz gekauft. Die Mieterin war damals schon über 80. »Wenn sie stirbt, ziehe ich endlich zurück in meine Heimatstadt Berlin«, dachte er sich. Als die Frau vor einem Jahr starb, stellte sich allerdings heraus, dass ihr Sohn noch in der Wohnung lebte. Für Jimmys Münchner Freunde eine klare Sache: Da meldest du Eigenbedarf an und dann fliegt der Sohn raus. Die Berliner Freunde hingegen sagten: Tja, wenn da noch jemand in der Wohnung wohnt, dann wird das wohl nix mit deinem Umzug nach Berlin.