Ein Wochenende zwischen Holzmarkt und Tempelhofer Feld

Der analoge Mann

Aus Kreuzberg und der Welt: Einsame Leidenschaften

Julia und ich sind ja jetzt urban sketchers. Seit einem Monat zeichnen wir wie besessen jeden Tag stundenlang unsere Umgebung. Und weil es schön ist, eine eigentlich einsame Leidenschaft mit anderen zu teilen, gehen wir jetzt auch zu sogenannten sketch walks, um mit anderen urban sketchers zu zeichnen. Am Samstagnachmittag trafen wir uns im Biergarten auf dem Holzmarkt-Gelände am Spreeufer. Oder besser: trafen uns nicht und sahen stattdessen nur eine Bekannte und ihre Mutter, die die Gruppe genauso suchten wie wir. Nachdem wir nach einer halben Stunde keine sketch book schwingenden Personen gefunden hatten, setzen wir uns schließlich an einen Tisch und begannen zu zeichnen.

Der Holzmarkt quoll am Samstagnachmittag bereits über vor Touristen, aber das passte mir ganz gut. Ich interessiere mich mehr für Menschen als für Architektur. Deshalb setzte ich mich gleich so hin, dass ich die an den Tischen sitzenden Leute und die dahinter Flanierenden ­direkt vor der Nase hatte. Ich begann mein Bild damit, dass ich zuerst im Hintergrund die für den Holzmarkt typischen Holzkisten und die vielen Bäume andeutete.

Dann platzierte ich die vor mir sitzenden Leute. Julia hatte mir zu Hause schon mit ein paar wilden Pinselstrichen einen Hintergrund gelegt, der mich jetzt, während ich den Bildaufbau machte, zwar irritierte, aber später der Komposition eine überraschende Intensität gab. Während wir zeichneten und malten, kamen wir ins Fachsimpeln. Auch ein toller Nebeneffekt des Treffens mit Gleichgesinnten! Ist die Designergouache von Schmincke oder das Titanweiß von Schmincke-Horadam besser? Kommt drauf an, was du machen willst. Designergouache ist ein besseres Deckweiß, deckt also besser, während Titanweiß sich leichter mit anderen Gouachefarben mischen lässt. Und so ging es in einem fort, die Zeit flog nur so dahin.

Plötzlich erwachten diese Platten aus ihrem Dornröschenschlaf, oder wurden vielleicht sogar zum ersten Mal in ihrem Schallplattenleben betanzt. Ein tolles Gefühl.

Nach zwei Stunden, mein Bild war fast fertig, entdeckte ich eine Person mit sketch book: die Organisatorin des Treffens. Es stellte sich heraus, dass die Gruppe sich überhaupt nicht im, sondern vor dem Holzmarkt getroffen hatte. Eigentlich hätten wir das wissen können, denn ­urban sketcher interessieren sich im Allgemeinen eher für die Architektur. Während ich nur irgendwelche Touristen gezeichnet hatte, konnten die anderen sketcher die pittoreske Holzmarktaußenfassade in ihren sketch books präsentieren. Mist, ich hatte alles falsch gemacht.

Ganz falsch fühle ich mich dennoch nicht. Die Idee des urban sketching kommt aus dem Journalismus. Ursprünglich ging es darum, die Menschen in ihrer urbanen Umgebung zu zeigen. Mir liegt das mehr, aber ich weiß auch, dass es natürlich schwerer ist, Menschen zu zeichnen als Häuser.

Um halb sieben bin ich schnell mit dem Fahrrad nach Hause gefahren, habe meine Plattenkiste geholt und bin dann weiter zum Tempelhofer Feld. Seit ein paar Wochen steht auf dem sogenannten Stadtacker, einem urban gardening-Projekt mit Hochbeeten, eine kleine Tanzfläche aus Holzpaletten, die mittwochs und samstags von ein paar dutzend Tanzenden genutzt wird. Und für diese Leute bauten mein DJ-Kollege Christopher und ich nun meinen tragbaren Plattenspieler auf und spielten über eine Lautsprecheranlage Schallplatten, bis es dunkel wurde.

Ab und zu spielte ich Singles, die ich erst ein paar Wochen zuvor aus dem Schrott gezogen hatte. Genauer gesagt, herausgelöst aus Kisten in Second-Hand-Plattenläden, die vollgestopft waren mit Schlagerschrott. Plötzlich erwachten diese Platten aus ihrem Dornröschenschlaf, oder wurden vielleicht sogar zum ersten Mal in ihrem Schallplattenleben betanzt. Ein tolles Gefühl.

Als es schon dunkel war und wir unsere Plattenkisten zugemacht hatten, kaperte ein junger Mann mit seinem Smartphone die Party und ließ plötzlich Elektroswing laufen. Fernsehwerbungsmusik, die wirklich niemand mit ein bisschen Geschmack gut findet. Ein paar Leute tanzten weiter. Wir sind dann gegangen. Die Parkwärter waren auch schon im Anmarsch. Irgendwie am Ende doof gelaufen, aber unterm Strich war es super. Zu Hause höre ich mir dauernd meine Platten an. Ich liebe es auch, sie zu finden und zu ­erwerben, aber am Schönsten ist es doch, eine eigentlich einsame Leidenschaft zu teilen.