Mit dem Konzept der Arbeitszeitrechnung kann Arbeit gesellschaftlich fair aufgeteilt werden

Faires Arbeiten

Menschen verwenden Arbeitszeit nicht nur auf die Produktion, sondern auch auf die Reproduktion. Daher lässt sie sich als uni­­verselle Einheit für eine egalitäre Wirtschaftsform nutzen. Es braucht somit keine große Revolution, die Arbeit an der Utopie kann schon im Kleinen beginnen.

Wie kann die gesellschaftliche Produktion abseits von Lohnarbeit und Märkten organisiert werden? Felix Klopotek stellte das Konzept der Arbeitszeitrechnung der Gruppe Internationaler Kommunisten vor (23/2023). Philip Broistedt und Christian Hofmann argumentierten, dass dieses Modell eine kollektive Planung der gesellschaftlichen Arbeitsteilung ermöglichen würde (24/2023). Julian Bierwirth kritisierte, dass damit die Widersprüche und Zwänge der Warenproduktion nicht überwunden würden (25/2023). Simon Sutterlütti argumentierte, dass eine Entlohnung mittels Arbeitszeitrechnung nur eine ­weniger autoritäre Form des realsozialistischen Staats­kapitalismus darstellen würde (27/2023). Jonna Klick schrieb über die Rolle von Arbeitszeitmessung in einer kommunistischen Gesellschaft (28/2023). Hermann Lueer verteidigte den Anspruch, mit der Arbeitszeitrechnung werde die ­kapitalistische Produktionsweise überwunden (30/2023).

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Wie lange arbeitet eine Näherin in Bangladesh pro Woche – vielleicht 80 Stunden? Ein Industriearbeiter in Deutschland vielleicht 35? Trotzdem bekommt er ungefähr das 40fache Monatsgehalt. Als Vorstandsvorsitzender bei Mercedes wiederum bekommt man ungefähr das 10.000fache der Näherin. Der Grund dafür liegt in den Produktionsverhältnissen, genauer gesagt in der Trennung der Produzent:innen von den Produktionsmitteln, wodurch die, die arbeiten müssen, um zu (über)leben, vom Kapital ausgebeutet werden.

Die Gruppe Internationaler Kommunisten (GIK) kritisiert genau diese Trennung der Arbeiter:innen vom Produkt ihrer Arbeit. In der Schrift »Grundprinzipien kommunistischer Produktion und Verteilung« entwickelte sie das Modell der Arbeitszeitrechnung (AZR) mit dem Ziel, den »Rückfall in sozialdemokratischen Reformismus und bolschewistischen Terrorismus« zu verhindern, wie Felix Klopotek zu Recht herausstellt. Sie schreiben: »Wir fordern nun Garantien, dass wir das Entscheidungsrecht über die Produktionsmittel behalten. Deshalb fordern wir jetzt allgemein gültige Regeln.« Denn »als gewöhnliche Proletarier, die normalerweise die Drecksarbeit machen, haben wir uns gefragt, wie die Interessen unserer Klasse gewahrt werden«.

Es ging der GIK also darum, den Zugriff auf die Produktionsmittel »zu behalten«, ihre Theorie setzt, wie Philip Broistedt und Christian Hofmann in ihrem Beitrag schreiben, »Gemeineigentum der Produktionsmittel ­voraus«.

Dabei stützte sich die GIK auf eine Arbeitszeitrechnung, wie sie schon im 19. Jahrhundert vor allem von Robert Owen, Karl Marx und Friedrich Engels in Erwägung gezogen wurde. Die GIK entwickelte die Theorie systematisch weiter und bezog dabei auch moderne Buchhaltungstechniken mit ein. So entstand ein erstaunlich einfaches und transparentes System, eine dezentrale Planwirtschaft auf Basis von Arbeitszeit. »Eine Stunde ist eine Stunde« gilt da­r­­in für alle, für Näher:innen wie für In­dustriearbeiter:innen.
Die in dieser Reihe bisher aufgetretenen Kritiker:innen der AZR konzen­trieren sich auf die Rolle der Arbeit in diesem Konzept – und hier besonders auf die Arbeitszertifikate, die als Nachweis der gearbeiteten Stunden dienen und für den individuellen Konsum verwendet werden können. Julian Bierwirth und Simon Sutterlütti, aus der Schule der Wertkritik und des Com­monismus kommend, werfen der AZR vor, durch Arbeitszertifikate Lohnarbeit und damit den Kapitalismus zu bewahren.

Dieser Vorwurf hängt wohl damit zusammen, dass sie den Kapitalismus vor allem als Arbeitsregime verstehen und dabei nicht bereit sind, zwischen Lohnarbeit und Arbeit als anthropo­logischer Konstante, als »Stoffwechsel mit der Natur«, wenn nicht gar als »erstes Lebensbedürfnis« (Marx) zu unterscheiden. Hermann Lueer schreibt zu Recht: »Für sie ist nicht der mit dem Eigentumsverhältnis verbundene Wert das gesellschaftliche Vermittlungsprinzip im Kapitalismus, sondern die Arbeit.«

Entsprechend wenig sind Sutterlütti und Bierwirth dann auch an einer Neuorganisation der Arbeit interessiert. Sutterlütti fordert, man solle »materi­alistisch denken«, schlägt selbst jedoch nichts anderes vor als das freie Nehmen nach Belieben. Woher die Produkte denn kommen sollen, darüber schweigt er, von Floskeln wie »Weltbeziehung«, »Solidarität«, »Sorge«, »travail attractif« (was übrigens auch travail, also Arbeit ist), einmal abgesehen.

Jonna Klick kann sich Arbeitszeitrechnung in der Produktion zwar vorstellen, lehnt aber ebenfalls Arbeitszertifikate als »Arbeitszwang« ab. Hier ist zunächst zu sagen, dass auch im »Commonismus« Konsum an Leistung gekoppelt ist, jedenfalls gesamtwirtschaftlich. Denn das, was konsumiert wird, muss vorher auch produziert, also »geleistet« worden sein. Die Zertifikate erfinden diese Kopplung also nicht, sondern machen sie transparent und sorgen für Fairness. Sie sind ge­radezu ein Schutz der Leiseren, Langsameren, Schwächeren. Der Einarmige bekommt hier das Gleiche für eine Stunde Arbeit wie der Zweiarmige.

Dieses »Stunde gleich Stunde«-Prinzip würde dazu führen, dass die notwendige Arbeit fair verteilt wird. Wer würde noch dauerhaft unangenehme Arbeiten machen, wenn die angenehmen gleich vergütet werden? Die Betriebsorganisationen, die Branchenverbände und die ganze Gesellschaft werden gleichmäßig gute Arbeitsbedingungen schaffen müssen, sei es über organisatorische (Rotationsprinzip) oder technische Lösungen (Automatisierung).

Die Arbeitszeitrechnung könnte die Methode sein, wie Erzieher:innen endlich den Ingenieur:innen gleich­gestellt werden.

Es wäre einfach, die Kritiker:innen der AZR auf die »öffentlichen Betriebe« der GIK hinzuweisen, die ihre Produkte »frei«, also nicht gegen Zertifi­kate abgeben. Sie bilden im Konzept der GIK den öffentlichen Sektor, der mit dem Kommunismus wächst und somit die Zertifikate verdrängt. Doch ist es wichtig zu betonen, dass Zertifikate wohl auf längere Sicht notwendig bleiben. Sie ­erlauben dezentralisierten Konsum: Gibt es sie nicht, müssen Bedürfnisse zentral erhoben werden und auch die Planung zentral erfolgen. Wird aber an zentraler Stelle der jeweilige Bedarf der Menschen ermittelt, wird es schwierig, auch Nischenbe­dürfnisse zu berücksichtigen und, wie es die GIK ausdrückt, »über das Einheitsbrot, die Einheitskonfektion und die Einheitswurst hinaus­zukommen«.

Die gegen die Anwendung der AZR in der Reproduktionsarbeit oder Care-Arbeit bisher vor­gebrachten Einwände sind falsch. Gerade weil sich diese Arbeiten »durch die direkte Beziehung mit Menschen« auszeichnen und sich nicht vergegenständlichen (Bierwirth), also wesentlich Dienstleistung sind, kann die AZR besonders leicht ­angewendet werden. Produktionspläne für Erziehung und Pflege lassen sich ohne ähnlich große mate­rielle Voraussetzungen erstellen, wie es in der Industrie der Fall wäre. Die heute existierenden Zeitbanken zeigen schon, wie leicht reine Dienstleistungen in eine Zeitökonomie integriert werden können. Die AZR könnte die Methode sein, wie Erzie­her:in­nen endlich den Ingenieur:innen gleichgestellt werden.

Stellt man sich die AZR im großen Maßstab vor, wird sofort klar, dass nicht alle Entscheidungen auf betrieblicher Ebene getroffen werden können: Infrastruktur- und Richtungsentscheidungen müssen entweder in Branchenverbänden oder übergreifenden Gremien verhandelt werden. Die Gesellschaft kann sich hier auch Regeln für eine ökologisch orientierte Produktion geben.

Eine Wirtschaft ohne Konkurrenz und Wachstumszwang hätte das Potential, rationaler, effektiver, ressourcenschonender zu sein. Große Teile des globalen Warenverkehrs würden überflüssig, wenn mit dem Lohn auch die Lohnunterschiede abgeschafft wären. Die Werbe- und die Finanzbranche verschwänden und ohne geistiges Eigentum müsste das gleiche Produkt nicht mehrmals entwickelt werden.

Die Arbeitszeit müsste daher nicht um andere Messkriterien wie CO2-Emissionen ergänzt werden, um ein wirk­sames Mittel gegen die Klimakrise und ihre Folgen zu sein. Die Arbeitszeit ist keine willkürliche Wahl und es lassen sich nicht einfach »andere Faktoren« einberechnen (Jonna Klick), sondern sie ist das einzige universelle Maß: Alle Produkte kosten Arbeitszeit und alle Menschen geben einen Teil ihrer ­Lebenszeit für die Gesellschaft her.

Die kapitalistische Kostenrechnung ist allen Betriebswirtschaftler:innen bekannt, womit auch annähernd schon die buchhalterischen Grundlagen für die Arbeitszeitrechnung gegeben sind. Dies hat Guenther Sandleben in seinem Buch »Gesellschaft nach dem Geld« (2022) jüngst beschrieben. Es gibt bereits »Zeitbanken«, lokale Zusammenschlüsse von Menschen, die Dienstleistungen miteinander austauschen, ohne dabei Geld zu nutzen. Die Digi­ta­lisierung macht es Kollektiven einfach, Arbeitszeitzertifikate und Konten zu verwalten. Die ökologische Krise zeigt ohnehin »deutlich die Notwendigkeit von Planung« (Broistedt/Hofmann).

Mit dem Konzept der AZR muss man nicht auf die eine, große Revolution warten. Schon jetzt könnte man Erfahrungen mit der AZR sammeln. Es gibt viele Genossenschaften und Kollektivbetriebe, die demokratisch organisiert sind und Interesse an weitergehender Vernetzung haben. Zur Umsetzung werden nur Plena, Zettel und Stift benötigt. Es ist dank der zentralen ­Recheneinheit ein denkbar simples und robustes System. Digitale Lösungen bieten sich an, weshalb die Initiative Demokratische Arbeitszeitrechnung eine frei verfügbare »Arbeitszeitapp« entwickelt hat. Sie kann von Kollek­tivnetzwerken »gehostet«, also auf einem Server bereitgestellt, und von ­Betrieben und Arbeiter:innen benutzt werden.

»Der Kommunismus existiert nun schon so lange ausschließlich im ­Ideenhimmel«, schrieb Wolfgang Pohrt einmal resigniert, »dass man anfangen muss, daran zu zweifeln, ob er überhaupt jemals auf die Erde niederkommt.« Um sich von himmlischen Gefilden möglichst fernzuhalten, könnte man auf die konkrete Umsetzung der AZR hinwirken. Zu tun ist viel. Nicht nur sind neue Strukturen aufzubauen, sondern die Theorie der AZR mit tatsächlichen Arbeitskämpfen zu verknüpfen.

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Terminhinweis: Am Freitag, 4. August, wird in der Jungle Bar diskutiert: »Arbeitszeitrechnung - Wie kann die gesellschaftliche Produktion jenseits von Lohnarbeit und Märkten organisiert werden?« Mit der Initiative Demokratische Arbeitszeitrechnung, Moderator Max Kügler und Redakteur:innen der Jungle World. Im »Bajszel«, Emser Str. 8/9, Kirsten-Heisig-Platz, Berlin-Neukölln, um 19.30 Uhr.

Junglebar