Das von Rätekommunisten entworfene Modell der Arbeitszeitrechnung

Die Verwaltung von Stunden

Vor fast 100 Jahren entwarfen niederländische und deutsche Kommunisten ein ökonomisches Organisationsmodell, dessen Grundlage die Verrechnung von geleisteten Arbeitsstunden bildet. Es ist ein bis heute relevantes Konzept für eine herrschaftsbefreite Ökonomie.
Disko Von

Wie kann die gesellschaftliche Produktion abseits von Lohnarbeit und Märkten ­organisiert werden? Auftakt einer Disko-Reihe über Modelle der kommunistischen Arbeitszeitrechung.


»Grundprinzipien kommunistischer Produktion und Verteilung«: Was für ein verheißungsvoller Buchtitel – und was für ein verheißungsvolles Programm. Denn die Schrift schlägt eine radikale Ökonomie der Zeit vor. Zeit als die grundlegende, allen einsichtige und verständliche gesellschaftliche Steuerungs­größe, anhand derer sich Arbeit bemessen lässt und deren gleiche Verteilung im Produktionsprozess letztlich eine Zeiteinsparung für alle bedeutet. »Wealth is disposable time and no­thing more«, hieß es bereits in einem anonymen sozialistischen Pamphlet von 1821, ein Gedanke, der Marx so teuer war, dass er darauf in seinem als »Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie« berühmt gewordenen Manuskript seine Vorstellung des Kommunismus aufbaute.

Aber nur zu! Man lese die »Grundprinzipien«, deren deutschsprachige Fassung 1930 erschien – und lasse sich ordentlich enttäuschen. Das Buch ist staubtrocken, die Sprache nicht besonders elegant, die anonymen Autoren, Mitglieder einer »Gruppe Internationaler Kommunisten«, beschreiben eine Ökonomie der Schwerindustrie mit Fabriken voller Arbeiter. Und sie sind auch noch pedantisch, rechnen kleinteilig Arbeitsschritte in Zeiteinheiten um – eigentlich schlagen die »Grundprinzipien« bloß eine kommunistische Buchführung vor, in der Arbeitsstunden miteinander verrechnet werden. Von den schwärmerischen Gemeinschaftsvorstellungen des neokommunistischen Unsichtbaren Komitees und dessen 2007 veröffentlichtem Essay »Der kommende Aufstand« trennen die »Grundprinzipien« Welten. Verständnis für alle, die dieses Buch nach dem ersten Einstieg weglegen. Zu den heutzutage geführten Debatten über »kollektives Arbeiten«, Selbstverwaltung und »Commonismus« scheint die Arbeitszeitrechnung wenig beizutragen.

Aber unsere Zeiten fußen nun mal auf den vergangenen, und damit auch auf den Niederlagen historischer sozialer Bewegungen. Die »Grundprinzipien« jedoch waren aus dem Bemühen hervorgegangen, eine der folgenschwersten Niederlagen theoretisch aufzuarbeiten, nämlich jene nach dem Ersten Weltkrieg, und sie eröffneten gleichzeitig eine Perspektive für die Zukunft. Macht man sich das bewusst – historisierte man sie also –, wird die Schrift spannend und, scheinbar paradox, sehr gegenwärtig. Denn die Aufarbeitung der Niederlagen ist kein einmal abgeschlossener Prozess, sondern stellt sich jeder Generation aufs Neue.

Die Utopie einer kommunistischen Ökonomie brauchte ein Prinzip, das den Rückfall in sozialdemokratischen Reformismus und bolschewistischen Terrorismus verhindert.

Wie konnte es sein, dass eine so mächtige Arbeiterbewegung wie die nach dem Ersten Weltkrieg nicht zum Ende des Kapitalismus geführt hatte? Das war die frustrierte Frage jener »internationalen Kommunisten« (de facto eine deutsch-holländische Gruppe) nach der Novemberrevolution in Deutschland. Dass eine Bewegung Niederlagen erfuhr und neu ansetzen musste, war das eine, damit konnte man umgehen. Dass sie aber nicht nur geschwächt aus den verlorenen Kämpfen hervorging, sondern ihr Schwung, der sie von einer demokratischen Republik zu einer ­sozialistischen hätte führen können, gänzlich verbraucht war, war niederschmetternd.

Klar war, dass dieses Scheitern nicht nur strategisch, sondern auch theoretisch aufgearbeitet werden musste, und dabei stießen die Mitglieder jener radikalen Strömung, die in die Geschichte als Rätekommunisten eingehen sollten, auf etwas, das noch niederschmetternder war. Die Arbeiterbewegung hatte sich selbst nachhaltig geschwächt, weil keiner ihrer Flügel – weder die Sozialdemokraten noch die Bolschewiki – in der Lage war, ein schlüssiges Konzept vorzulegen, welche Prin­zipen einer herrschaftsbefreite Ökonomie eigentlich zu Grunde liegen sollten. Die Sozialisierungsdebatte in Deutschland nach der Novemberrevolution kam über wenige Vorschläge nicht hinaus, die die SPD dann auch noch zurückwies. Die im russischen Bürgerkrieg brutalisierten Bolschewiki konnten nur einen fatalen Voluntarismus – Wenn wir erst die politische Macht haben, werden wir die Wirtschaft schon regeln! – anbieten, der einem rücksichtslosen (Wieder-)Aufbau beförderte und ein terroristisches Arbeitsregime in den Fabriken und auf dem Land errichtete.

Kurzum, die Utopie einer kommunistischen Ökonomie brauchte ein Prinzip, das den Rückfall in sozialdemokratischen Reformismus und bolschewistischen Terrorismus – beides arbeitet jeweils einer kapitalistischen Restauration zu – verhindert; eine Recheneinheit, die es ermöglicht, die Produktion demokratisch zu steuern, die nachvollziehbar macht, wie viel ­Arbeit für welchen Vorgang aufgewendet wird, und die letztlich der gesamten Gesellschaft Arbeitsersparnis bringt. Dieses Prinzip ist die Zeit, genauer: die Arbeitsstunde.

Kleiner Einschub: Prinzipien allein verhindern nichts, es sind Menschen, die kollektiv etwas verändern. Die Programmschrift der Rätekommunisten erzählt recht wenig von den Menschen und ihren Handlungen, weswegen ihr Fetischismus vorgeworfen wurde: ein Beschwören abstrakter Prinzipien, deren Anwendung magische Wirkung zugeschrieben wird. Der Vorwurf geht aber an der Sache vorbei: Die Autoren der »Grundprinzipien« unterstellen die erfolgreiche politische Revolution der Arbeiterklasse, also ein kollektives soziales Handeln von Menschen, das sich in einer Räteherrschaft ausdrückt. Sie ist in der Schrift immer vorausgesetzt und wird deshalb nicht eigens eingeführt.

Zurück zur Arbeitsstunde: Die »Grundprinzipien« schlagen vor, den gesamten Produktionsvorgang in Arbeitsstunden auszudrücken. Auch die eingesetzten Produktionsmittel lassen sich zeitlich bewerten, weil sie ihrerseits Resultat verausgabter Arbeit sind. Jeder Betrieb hat für seine Produkte eine Selbstkostenrechnung in Arbeitsstunden anzustellen. Ein Vorgang, der übrigens schon heute stattfindet und eine gängige Praxis kapitalistischer Unternehmen ist. Das Management giert danach, die Arbeitsprozesse der Arbeiter und Angestellten zeitlich ­exakt zu erfassen, um daraus verfeinerte Methoden der Mehrwertabpressung abzuleiten.

In den »Grundprinzipien« wird der Vorgang auf die gesamte Produktion angewendet. Es geht nicht mehr darum, die einzelne Arbeiterin zu kontrollieren, sondern allen einsichtig zu machen, wie viel Zeit die Gesellschaft für ihre Reproduktion benötigt, wie viel Zeit jeder einzelne dafür aufgewendet hat und was das wiederum für seine persönliche Reproduktion bedeutet. Wenn man so will: Die kapitalistische Kontrolle der Fabrik wird aufgehoben in die egalitäre Selbstkontrolle der Gesellschaft.

Diese Selbstkontrolle findet innerhalb einer bestimmten Rechnungsperiode statt, die zum Beispiel einen Zeitraum von einem Monat abdeckt. Am Ende dieser Periode sind vorhanden: Produkte im Wert von X Arbeitsstunden und demgegenüber in Arbeitsstunden gezählte Ansprüche der Gesellschaftsmitglieder. Durch die geleistete Arbeit, deren Verausgabung öffentlich bekannt ist, haben die Arbeitenden zugleich eine Übersicht über die Ansprüche, die sie auf die Güter anmelden können, und zwar in Form von Arbeitsstundenscheinen. Ebenfalls mitgedacht ist hier, dass die Grundver­sorgung der Leute – Kranken- und Altersvorsorge, Wohnraum, Erziehung und Bildung, Kultur – gesichert ist.

Sind Sozialdemokratie und Bolschewismus überhaupt noch Bezugspunkte einer heutigen sozialistischen Debatte?

Diese Stundenscheine sind kein Geld. Sie können nicht »verzinst«, sprich: ­investiert, werden, sie verkörpern kein Kommando, um die Arbeitskraft der Arbeiter in Bewegung zu setzen, sondern umgekehrt: Sie sind Resultat des Arbeitsprozesses. Dennoch ist die kri­tische Nachfrage berechtigt, was eigentlich verhindert, dass diese Scheine über kurz oder lang nicht doch wieder für sich zirkulieren und zu einem ­Investitions- und somit Spekulationsgut werden.

Gleichwohl waren die »Grundprinzipien« zu ihrer Zeit die stärkste Antwort darauf, was die Arbeiterbewegung mit ihrer potentiellen gesellschaftlichen Kraft anstellen kann, ohne kapitalistische Verkehrsformen zu reproduzieren. Sie lieferten die Kritik an der Sozialisierungsdebatte, aber auch an dem Machtanspruch der Bolschewiki gleich mit, indem sie zeigten, dass sich in deren gesellschaftlichen Vorstellungen und politischen Durchsetzungsformen ­immer wieder Momente der Intransparenz, Fremdbestimmung und Ausbeutung einschreiben.

Aber sind Sozialdemokratie und Bolschewismus überhaupt noch Bezugspunkte einer heutigen sozialistischen Debatte? In radikalen Kreisen kursieren doch eher romantisch-libertäre Vorstellungen, die von einem generellen Affekt gegen alle Formen des Tausches und Denkens in Äquivalenten geprägt sind. Jeder Tausch setzt die Vergleichbarkeit von Unvergleichbarem voraus und ruiniert den wahrhaft freien Akt des Gebens. Der marxistische Philosoph Terry Eagleton stöhnte über diese »­übliche libertäre Abneigung gegen Maß, Regulierung, Identität, Äquivalenz und Berechenbarkeit« und kommentierte: »Sicherlich wenig glamouröse Phänomene, aber für jede Form der gesellschaftlichen Existenz lebenswichtig. Wer sie verwirft, zeigt sich als Privilegierter.«

Eagleton, der sich hier gegen Derrida wendet, spricht, ohne an sie gedacht zu haben, die Wahrheit der »Grundprinzipien« aus. Deren Autoren waren ­Arbeiter, die »Gruppe Internationaler Kommunisten« war eine Arbeitergruppe. Die »Grundprinzipien« sind eine Schrift von Nicht- oder besser: Niemals­privilegierten. Mit der Arbeitszeitrechnung liegt ein authentisches Zeugnis einer proletarischen Kommunismusvorstellung vor. Wir sollten unsere Vorstellungen daran messen.