Die Arbeitszeitrechnung macht die Überwindung kapitalistischer Produktionsverhältnisse möglich

Anders als im Kapitalismus

Die Arbeitszeitrechnung ermöglicht es, ohne kapitalistische Eigentumsverhältnisse in einer arbeitsteiligen Gesellschaft sowohl die Erfüllung von Bedürfnissen als auch die dafür notwendige Arbeit bewusst zu organisieren.
Disko Von

Wie kann die gesellschaftliche Produktion abseits von Lohnarbeit und Märkten organisiert werden? Felix Klopotek stellte das Konzept der Arbeitszeitrechnung der Gruppe Internationaler Kommunisten vor (23/2023). Philip Broistedt und Christian Hofmann argumentierten, dass dieses Modell eine kollektive Planung der gesellschaftlichen Arbeitsteilung ermöglichen würde (24/2023). Julian Bierwirth kritisierte, dass damit die Widersprüche und Zwänge der Warenproduktion nicht überwunden würden (25/2023). Simon Sutterlütti argumentierte, dass eine Entlohnung mittels Arbeitszeitrechnung nur eine ­weniger autoritäre Form des realsozialistischen Staats­kapitalismus darstellen würde (27/2023). Jonna Klick schrieb über die Rolle von Arbeitszeitmessung in einer kommunistischen Gesellschaft (28/2023).

Solange nicht alles in beliebiger Menge und zum gewünschten Zeitpunkt vom Himmel fällt, würde jede Gesellschaft verrecken, die für ein paar Wochen die Arbeit einstellt. Denn die den Erfordernissen der Lebenserhaltung entsprechenden Mengen von Produkten müssen erst einmal erzeugt werden. Mehr noch, die gesellschaftliche Gesamtarbeit muss zweckmäßig aufgeteilt werden, um jeweils ausreichende Mengen der erforderlichen Produkte zu erzeugen.

»Dass diese Notwendigkeit der Verteilung der gesellschaftlichen Arbeit in bestimmten Proportionen durchaus nicht durch die bestimmte Form der gesellschaftlichen Produktion aufgehoben, sondern nur ihre Erscheinungsweise ändern kann, ist self-evident. Naturgesetze können überhaupt nicht aufgehoben werden. Was sich in historisch verschiednen Zuständen ändern kann, ist nur die Form, worin jene Gesetze sich durchsetzen. Und die Form, worin sich diese proportionelle Verteilung der Arbeit durchsetzt in einem Gesellschaftszustand, worin der Zusammenhang der gesellschaftlichen Arbeit sich als Privataustausch der individuellen Arbeitsprodukte geltend macht, ist eben der Tauschwert dieser Produkte. Die Wissenschaft besteht eben darin, zu entwickeln, wie das Wertgesetz sich durchsetzt.« (Marx, Brief an Ludwig Kugelmann vom 11. Juli 1868.)

Bierwirth und Sutterlütti können sich dieser Argumentation von Marx nicht anschließen. Für sie ist nicht der mit dem Eigentumsverhältnis verbundene Wert das gesellschaftliche Vermittlungsprinzip im Kapitalismus, sondern die Arbeit. Dementsprechend setzen sie sich auch nicht inhaltlich damit auseinander, was die Durchsetzung der Arbeitszeitrechnung konkret bedeuten würde, sondern halten schlicht ihr utopisches Programm dagegen: Solidarität als Vermittlungsform in der weltweiten Arbeitsteilung. Diese Phrase kann aber nicht Grundlage eines Produktions- und Reproduktionsprozesses sein. Wenn die Menschen ihre arbeitsteilige Gesellschaft selbst regeln und verwalten wollen, müssen sie den Zusammenhang zwischen ihren Bedürfnissen und der Arbeit, die zu deren Befriedigung erforderlich ist, zur Grundlage ihrer bewussten Entscheidungen machen.

Geld- und Arbeitszeitrechnung sind Ausdruck unterschiedlicher Produktionsverhältnisse. Da in beiden Produktionsverhältnissen die gesellschaftliche Güterbewegung verrechnet wird, entsteht äußerlich der Eindruck, in beiden herrsche dasselbe Prinzip der Güterzirkulation. Tatsächlich aber sind Form und Inhalt grundlegend verschieden. Während in der über die Arbeitszeit vermittelten Güterzirkulation niemand etwas geben kann außer seiner Arbeit und nichts in das Eigentum des Einzelnen übergehen kann außer den individuellen Konsumtionsmitteln, kann in der über den Wert (Geld) vermittelten Marktwirtschaft fremde Arbeit ausgebeutet werden, um nicht nur individuelle Konsumtionsmittel, sondern auch Produktionsmittel in das Eigentum des Geldbesitzers übergehen zu lassen.

Das Geld, das mit dem Eigentum an den Produktionsmitteln in die Welt kommt, ist die vergegenständlichte Form, in der das gewaltsame Ausschlussverhältnis der Gesellschaftsmitglieder wirkt.

Das Geld, das mit dem Eigentum an den Produktionsmitteln in die Welt kommt, ist die vergegenständlichte Form, in der das gewaltsame Ausschlussverhältnis der Gesellschaftsmitglieder wirkt. Mit dem Verfügungsrecht über die Produktionsmittel hat die besitzende Klasse zugleich die Kontrolle über die Arbeitskraft; das heißt, sie herrscht über die Arbeiterklasse. So wird es möglich, durch die Aneignung des Mehrwerts, also der Differenz zwischen dem Wert der Arbeitskraft und dem Wert der von ihr geschaffenen Produkte, den privaten oder staatlichen Zugriff auf den gesellschaftlichen Reichtum immer weiter auszudehnen. Lohnarbeit ist Ausdruck der Tatsache, dass die Arbeiter als freie Personen nur über den Verkauf ihrer Arbeitskraft verfügen können und daher weder am Produkt ihrer Arbeit noch an der Gestaltung ihrer Arbeitsbedingungen maßgeblich beteiligt sind.

Der Wert, um den sich im Kapitalismus alles dreht, ist mit den Attributen abstrakte Arbeit und gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit nicht hinreichend bestimmt, wie Bierwirth und Sutterlütti suggerieren. Erst auf der Grundlage des Eigentums an den Produktionsmitteln wird der gesellschaftliche Zusammenhang der Arbeitsteilung indirekt im Austausch der privatisierten Produkte (Waren) hergestellt, indem deren Wert durch die Konkurrenz auf den Märkten nach der gesellschaftlich notwendigen Arbeitszeit bestimmt wird. Dementsprechend wird der Anteil am Produkt der gesellschaftlichen Gesamtarbeit in diesem Produktionsverhältnis nicht durch die individuelle Arbeitszeit, sondern hinter dem Rücken der Gesellschaftsmitglieder durch die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit bestimmt.

Mit der Durchsetzung der individuellen Arbeitszeit als Maß für den Anteil am gesellschaftlichen Arbeitsprodukt wird die Aneignung des Mehrwerts in der Lohnarbeit aufgehoben und damit die Herrschaft derjenigen beendet, die über den gesellschaftlichen Produktionsapparat und somit auch über dessen Produkte verfügen. Mit dem Eigentum an den Produktionsmitteln verschwindet der auf Eigentum beruhende Warentausch und damit der Tauschwert samt seiner allgemeinen stofflichen Form, dem Geld. Für Arbeiter bedeutet das, dass nicht die Bewertung ihrer Ware Arbeitskraft durch die Konkurrenz auf den Märkten oder staatliche Behörden, sondern ihre Arbeitszeit bestimmt, welchen Anteil sie am gesellschaftlichen Reichtum erhalten. Das Geld als allgemeine Zugriffsmacht und Zweck des Wirtschaftens (Kapitalakkumulation) ist abgeschafft.

Auf der Grundlage der Arbeitszeitrechnung, die das Verhältnis von Arbeitsaufwand und Ertrag für alle Gesellschaftsmitglieder transparent macht, ist eine Produktionsplanung möglich, bei der die Menschen nach individueller Abwägung von Aufwand (individuelle Arbeitszeit) und Ertrag (gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit) selbst entscheiden können, was sie haben wollen. Das heißt, jeder kann über seine individuelle Arbeitszeit und seinen Konsum selbst bestimmen. Die individuellen Bedürfnisse werden gegen den gesellschaftlichen Arbeitsaufwand abgewogen und über Konsumwünsche und die entstprechende individuelle Arbeitsbereitschaft in den gesellschaftlichen Planungsprozess eingebracht. Über die Arbeitszeitrechnung löst sich somit die Verteilungsfrage in der gemeinschaftlichen Produktionsplanung auf. Ob Arbeitszeitkonten dabei nur eine öffentliche Information darstellen oder (bei fehlender Solidarität hinsichtlich der für den eigenen Konsum notwendigen Arbeit) einen verpflichtenden Charakter bekommen, ist im Sinne der »Grundprinzipien« der Gruppe Internationaler Kommunisten (GIK) eine zweitrangige Frage.

Natürlich verstehen Bierwirth und Sutterlütti, dass zwischen dem kapitalistischen Produktionsverhältnis und einem Produktionsverhältnis, das auf der Arbeitszeitrechnung beruht, grundsätzliche Unterschiede bestehen. Da sie aber ihre Utopie verteidigen wollen, interessieren sie diese Unterschiede nicht sonderlich. Arbeit ist für sie gleich Lohnarbeit, Verrechnung über Arbeitszeit gleich Warentausch. Indem sie unterschiedliche Sachverhalte mit denselben Begriffen belegen, tragen sie zur Verwirrung bei. Wer nicht zwischen Tauschwert und Arbeit unterscheiden will, dem verschwimmt alles zu einem begriffslosen Brei, in dem alle Kategorien des kapitalistischen Produktionsverhältnisses auf einer anderen Ebene falsch reproduziert werden.

Jonna Klick teilt die Utopie, meint aber im Hinblick auf die Arbeitszeitrechnung zwischen Produktion und Konsumtion unterscheiden zu können. Es ist aber ein Irrtum zu glauben, dass man Produktion und Konsumtion in dieser Hinsicht trennen kann. Planung für die Produktion ist zugleich Planung für den Konsum und umgekehrt. Es ist daher ein Widerspruch, zu meinen, beim Konsum könne man den Zusammenhang mit der für den Konsum notwendigen Arbeit ignorieren.