Archiv des Anthropozäns
Vor einigen Monaten wurden an dieser Stelle schon einmal das Anthropozän und die sich mittlerweile über 20 Jahre hinziehenden Bemühungen erwähnt, diese neue, vom Menschen geprägte Epoche der Erdgeschichte auch offiziell in die geologische Zeitskala aufzunehmen. Im Juli ist hier etwas Entscheidendes passiert: Die zuständige Expertengruppe, die Anthropocene Working Group (AWG), gab bekannt, welcher Standort für diese neue Epoche als Referenzpunkt gewählt werden soll.
Denn damit alles seine Ordnung hat, legt die Internationale Kommission für Stratigraphie sogenannte Global Boundary Stratotype Sections and Points (GSSP) fest, deren Charakteristika typisch für ein bestimmtes Erdzeitalter sind. Für das Anthropozän stand dabei eine große Anzahl an Orten zur Auswahl, an denen sich das menschliche Treiben langfristig in die Erdgeschichte eingeschrieben hat: Im Rennen waren unter anderem ein Moor in Polen, ein kalifornischer Stausee und auch eine Stelle am Boden der Ostsee, wo Sedimentbohrkerne einen abrupten Farbwechsel von hell zu dunkel zeigen und damit das Sinken des Sauerstoffgehalts dokumentieren, der ab den sechziger Jahren durch hohen Düngereintrag in das Binnenmeer einsetzte.
Plutonium aus Atombombentests findet sich in den Ablagerungen ebenso wieder wie Schwermetalle, Mikroplastik und nicht zuletzt Spuren der steigenden CO2-Konzentration in der Atmosphäre, was den wohl nachhaltigsten Einfluss auf den weiteren Verlauf der Erdgeschichte haben wird.
Die zweifelhafte Ehre wird aber einem anderen Ort zuteil: Die AWG entschied sich für den Crawford Lake in Kanada. Die Sedimente dieses Sees stellen ein Archiv menschlicher Aktivitäten von der indigenen Besiedlung über die europäische Kolonisierung bis in die heutige Zeit dar. Plutonium aus Atombombentests findet sich in den Ablagerungen ebenso wieder wie Schwermetalle, Mikroplastik und nicht zuletzt Spuren der steigenden CO2-Konzentration in der Atmosphäre, was den wohl nachhaltigsten Einfluss auf den weiteren Verlauf der Erdgeschichte haben wird. All das schön säuberlich geschichtet und durch saisonale Ablagerungen aufs Jahr genau ablesbar, weil es am Seegrund keine grabenden Organismen gibt, die für Unordnung sorgen könnten.
Den Beginn des Anthropozäns datiert die Arbeitsgruppe auf die fünfziger Jahre, weil die weitreichenden Veränderungen, die in dieser Zeit einsetzten, weltweit Spuren in allen Sedimenten hinterlassen haben; insbesondere der radioaktive Niederschlag ist da zu erwähnen. Offiziell leben wir aber trotzdem noch nicht in der neuen Epoche: Bevor die Dachorganisation International Union of Geological Sciences den Vorschlag annimmt und die goldene Plakette, der sogenannte Golden Spike, zur Kennzeichnung des GSSP angebracht werden kann, müssen noch drei Gremien darüber abstimmen. Bis es vermutlich im August 2024 so weit sein wird, dürfte noch einiges an Asche aus den Waldbränden in Kanada zu den Sedimenten des Crawford Lake hinzugekommen sein. Manchmal sind die Geowissenschaften tatsächlich langsamer als die Vorgänge, die sie untersuchen.