Das Ende der ­Affirmative Action in den USA

Urteil zu Affirmative Action: In Zukunft farbenblind

Der Oberste Gerichtshof in den USA hat Affirmative Action an Universitäten verboten, also die Bevorzugung nach Hautfarbe. Den wirklich Benachteiligten hat die Praxis sowieso kaum geholfen.
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Vielen galt das Urteil als ein weiteres Beispiel dafür, dass die vom früheren US-Präsidenten Donald Trump geschaffene konservative Mehrheit am Obersten Gerichtshof das Land langfristig prägen werde. Ende Juni hat das Gericht die sogenannte Affirmative Action für verfassungswidrig erklärt. Universitäten dürfen die Hautfarbe – beziehungsweise das, was in den USA als race bezeichnet wird – bei der Auswahl von Bewerbern nicht mehr berücksichtigen.

Die Bewertung des Urteils ist allerdings nicht so einfach, wie es auf den ersten Blick scheint. Die heutige Praxis der Affirmative Action hat praktisch nichts mehr damit zu tun, jenen Bevölkerungsschichten zu helfen, die wegen der rassistischen Geschichte der USA bis heute benachteiligt sind. Sogar der liberale New Yorker schrieb, das Prinzip der Affirmative Action sei wünschenswert, wie sie jedoch tatsächlich praktiziert wurde, sei »schwer zu verteidigen« gewesen. In einer Umfrage zu dem Urteil zeigten sich auch Afroame­rikaner gespalten: 47 Prozent der Befragten stimmten dem Urteil sogar zu, nur 36 Prozent waren dagegen. Und nur 20 Prozent der befragten Afroamerikaner gaben an, durch Affirmative Action einen Vorteil gehabt zu haben, während 35 Prozent sogar angaben, dadurch benachteiligt worden zu sein.

Seit Jahrzehnten ist die juristische Rechtfertigung für Affirmative Action nicht mehr, dass damit vergangene Diskriminierung ausgeglichen wird, sondern dass damit ein Gut namens Diversität hergestellt wird. Universitäten hätten ein berechtigtes Interesse an einer diversen Studentenschaft und dürften deshalb nach diesen Maßstäben Bewerber auswählen. Für die meisten US-amerikanischen Unis spielt Affirmative Action freilich kaum eine Rolle. Sie akzeptieren den Großteil ihrer Bewerber und sind damit oft schon von ganz alleine divers. Exklusive Unis wie Harvard müssen Diver­sität dagegen bewusst anstreben und tun das auch durchaus mit Erfolg – jedoch nur hinsichtlich der Hautfarbe, nicht der sozialen Herkunft. Zwei Drittel der Harvard-Studenten stammen aus dem obersten Einkommensfünftel, nur 4,5 Prozent aus dem untersten Einkommensfünftel.

Kinder von Reichen werden schon im jungen Alter durch allerlei Privatschulen, Nachhilfeakademien und hochkarätige Praktika auf die Bewerbung an einer renommierten Universität vorbereitet. Der Konkurrenzdruck ist dabei gewaltig, aber es konkurrieren eben vor allem die Kinder der Ober- und gehobenen Mittelschicht miteinander – der Rest kann kaum mithalten.

Darüber hinaus gibt es auch so etwas wie Affirmative Action für die Oberschicht. Wer Eltern hat, die schon Harvard besucht haben, wird bei der Bewerbung offiziell bevorzugt. Das Gleiche gilt für jene, deren Eltern bei Harvard in führender Position arbeiten oder unterrichten – oder die einfach ein paar Millionen Dollar für eine Spende übrighaben. Ein Beispiel für Letzteres ist Jared Kushner, der Schwiegersohn von Donald Trump, dessen Vater 2,5 Millionen Dollar an Harvard spendete.

Würden die Eliteuniversitäten sich wirklich um social justice scheren, würden sie ihre gewaltigen Vermögen dafür nutzen, um deutlich mehr Studienplätze anzubieten und mehr ärmeren Studenten Bildung zu bieten.

Ein anderer Weg zur Eliteuniversität ist der Sport. Das Klischee will es, dass vor allem unterprivilegierte Kids mit Basketball oder Football an die entsprechenden Unis kommen. Doch es gibt auch Stipendien für Sportarten, in denen die obere Mittelschicht kaum Konkurrenz fürchten muss, wie Segeln oder Lacrosse. 43 Prozent der Harvard-Studenten hätten aus den genannten Gründen, Patronage oder wegen teurer Sportarten, einen bevorzugten Zugang erhalten, schrieb die Financial Times vorige Woche – die derzeitige Aufregung um Affirmative Action lenke deshalb vom eigentlichen »moralischen Bankrott der Ivy League« ab, also der Gruppe der traditionellen Eliteuniversitäten der USA.

Der Gerichtsprozess drehte sich außerdem darum, dass es bei Harvard nicht nur Bevorzugung, sondern sogar Benachteiligung auf der Basis der Hautfarbe gegeben habe, und zwar von Asiaten. Dem Gericht zufolge erhielten sie systematisch eine negative Persönlichkeitsbewertung. Dadurch sei ihr Anteil an der Studentenschaft niedrig gehalten worden.

Der Bewerbungsprozess an Unis wie Harvard ist intransparent und sehr komplex. Zahlreiche Faktoren können in die Entscheidung einfließen – soziales Engagement, die persönliche Lebensgeschichte, Empfehlungsschreiben oder Bewerbungsessays. Deshalb werden Unis wie Harvard auch zukünftig Wege finden können, für Diversität zu sorgen.

Geprägt wurde dieser komplexe Bewerbungsprozess vor etwa 100 Jahren, als zunehmend die Kinder von jüdischen und katholischen Migranten an die altehrwürdigen Eliteuniversitäten drängten. Die alte Wasp-Elite, also die der white anglo-saxon protestants, wollte unter sich bleiben, deshalb wurden allerlei Kriterien eingeführt, die über bloße Schulnoten hinausgingen und die gesamte Persönlichkeit einbeziehen sollten. Das verschaffte Bewerbern mit dem richtigen Stallgeruch einen Vorteil.

Heutzutage sind akademische Kriterien wichtiger als damals, de facto mischen sich an Unis wie Harvard aber nach wie vor die Kinder der Oberschicht mit einigen Aufsteigern. Man darf bei all dem nicht vergessen, dass Harvard ein Stiftungsvermögen von 53 Milliarden Dollar besitzt und zudem als Bildungseinrichtung große steuerliche Privilegien genießt. Würden die Eliteuniversitäten sich wirklich um social justice scheren, würden sie ihre gewaltigen Vermögen dafür nutzen, um deutlich mehr Studienplätze anzubieten und mehr ärmeren Studenten Bildung zu bieten. Doch der Hauptzweck solcher Universitäten ist eben das exakte Gegenteil von sozialer Gleichheit, nämlich die stetige Erneuerung einer sozialen Führungsschicht. Das erklärt vielleicht, warum Diversität an diesen Institutionen so en vogue ist: Demonstrativer Antirassismus immunisiert solche Verhältnisse gegen Kritik und gibt den Führungskräften von morgen das Gefühl, auf der richtigen Seite zu stehen.