Jordán Rodas, guatemaltekischer Exilant, im Gespräch über den überraschenden Wahlausgang in Guatemala

Guatemala: »Die Hoffnung ist zurück«

Bei der Präsidentschaftswahl in Guatemala am 25. Juni holten zwei sozial­demokratische Kandidaten die meisten Stimmen, nachdem Umfragen noch kurz zuvor rechte Parteien und auch eine rechts­extreme Kandidatin ganz vorne gesehen hatten. Das Verfassungs­gericht hat allerdings am Samstag nach Beschwerden rechter Parteien verfügt, dass das amtliche Ergebnis der Wahlen noch nicht veröffentlicht werden darf, und eine Prüfung innerhalb von fünf Tagen angeordnet. Der im Exil lebende ehe­malige Menschen­rechtsanwalt und Politiker Jordán Rodas über den überraschenden ersten Wahlausgang.
Interview Von

In Umfragen vor der Präsidentschaftswahl lag lange Zury Ríos Sosa von der rechtspopulistischen Partei Valor in Führung. Sie ist die Tochter des ehemaligen Diktators Efraín Ríos Montt. Doch werden in der Stichwahl, die wahrscheinlich am 20. August stattfinden wird, Sandra Torres Casanova (UNE) und überraschenderweise Bernardo Arévalo (Movimiento Semilla, Samenkorn-Bewegung) gegeneinander antreten, die beide sozialdemokratische Positionen vertreten. Was denken Sie dar­über?
Das Wahlergebnis war so nicht zu erwarten gewesen. Die Hoffnung in Guatemala ist zurück. Wichtig ist aber die mit rund 60 Prozent niedrige Wahlbeteiligung, und mit 24 Prozent auch die hohe Zahl der Wähl­er:in­nen, die ungültige oder leere Stimmzettel abgegeben haben. Es ist eine deutliche Absage an den »Pakt der Korrupten«, an die omnipräsente Korruption und die bestehenden Verhältnisse; eine Absage an das ultrakonservative Lager, an Rassismus und Diskriminierung, die vor allem der indigenen Bevölkerung entgegenschlägt.

Verbirgt sich hinter der hohen Zahl an ungültigen Stimmen die Wahl­klientel Ihrer Partei MLP? Ihnen und der MLP-Präsidentschaftskandidatin Thelma Cabrera wurde die Kandidatur untersagt.
Nein, es wäre arrogant, das zu behaupten, auch wenn sicherlich viele MLP-Wähler unter ihnen sind. Neben Rodas und Cabrera haben zwei andere Kandidaten, die an den Wahlen nicht teilnehmen durften, dazu aufgerufen, ungültig zu stimmen, nämlich der konservative Roberto Arzú (Podemos, Wir ­können) und der Unternehmer Carlos Pineda (Prosperidad Ciudadana, Bür­ger­wohlstand).

Sandra Torres hat zum dritten Mal für die Präsidentschaft kandidiert, sie verspricht, mit harter Hand gegen die organisierte Kriminalität vorzugehen. Was ist von ihr zu halten?
Torres ist eine profilierte und erfahrene Politikerin und hatte sich als First Lady während der Präsidentschaft ihres Gatten Álvaro Colom der Sozialpolitik der Regierung angenommen. Dafür ist sie landesweit bekannt und geschätzt. Sie hat 2015 und 2019 ohne Erfolg für die Präsidentschaft kandidiert, sie wäre die erste Frau in diesem Amt. Sie und ihre Partei Unidad de Esperanza (Einheit der Hoffnung, UNE) verfügen seit Jahren über eine starke Basis, vor allem in den ländlichen Regionen. Bei der Wahl 2019 kam sie in der ersten Runde auf über 1,1 Millionen Stimmen (25,4 Prozent). Dieses Mal hat sie rund 880 000 Stimmen (21 Prozent) erhalten.

Torres und die UNE-Abgeordneten haben im Parlament in den vergangenen vier Jahren oft die rechtskonservative Regierung von Präsident Alejandro Giammattei unterstützt. Hat sie einen Deal mit dem »Pakt der Korrupten« gemacht, dem Klüngel aus Militärs, Unternehmen und Politik, der Guatemala faktisch regiert?
Torres gehört zum traditionellen politischen Establishment in Guatemala, aber es führt zu weit, ihr einen Deal mit dem »Pakt der Korrupten« zu unterstellen. Dafür gibt es keine Belege.

Gilt Torres nicht als Bewunderin von El Salvadors autoritärem Präsidenten Nayib Bukele, der mit drakonischen Mitteln gegen die Bandenkriminalität in El Salvador vorgeht, aber auch die Pressefreiheit und die Menschenrechte systematisch ignoriert?
Das Beispiel Bukeles ist populär in Lateinamerika, der Populismus auf dem Vormarsch. Torres ist mit dieser Haltung, die ich verurteile, nicht allein. Organisierte Kriminalität ist in Mittel- und Lateinamerika ein gravierendes Problem – sie zu bekämpfen ist notwendig, aber im Rahmen der Grundrechte.

Und wer ist Bernardo Arévalo? Er kam mit rund 650 000 Stimmen (15,6 Prozent) auf den zweiten Platz. Könnte er dem »Pakt der Korrupten« gefährlich werden?
Oh ja, Arévalo hat nichts mit dem »Pakt der Korrupten« zu tun, hat im Parlament immer wieder Kritik an ihm geäußert und die Korruption gegeißelt. Das haben die Wähler:innen mit ihrer Stimme quittiert. Er ist eine demokra­tische Alternative mit politischer Erfahrung. Er ist der Sohn des Präsidenten Juan José Arévalo Bermejo, der 1945 als erster vom Volk gewählter Präsident für den politischen Frühling in Guatemala stand und einer der wenigen von der Bevölkerung anerkannten Präsidenten Guatemalas ist. Arévalo ist Soziologe und hat diplomatische Erfahrung, er war Botschafter in Spanien.

Die Linke in Guatemala ist zersplittert und uneinig. Haben Sie die Hoffnung, dass sich das ändern könnte, das zumindest in der Stichwahl alle linken Parteien Arévalo unterstützen?
Die Hoffnung habe ich, aber die Wahl ist auch eine Lektion für die Linke, die es nicht schafft, die Wähler:innen in einem Land mit einer derart breiten sozialen Kluft von sich zu überzeugen, glaubwürdige Konzepte zu entwickeln und die Menschen in ihrer oft überaus prekären Lebensrealität abzuholen.

Lange galt Zury Ríos als eine Favoritin für die Stichwahl. Sie wurde vom Wahlgericht zugelassen, obwohl die Verfassung den Angehörigen von Gewaltherrschern eine Kandidatur verbietet. Hat Sie überrascht, dass Ríos nur knapp neun Prozent der Stimmen erhielt?
Ja, es hat mich sehr positiv überrascht, damit habe ich nicht gerechnet. Auch das ist ein Signal: Die Menschen in Guatemala scheinen zu begreifen, dass sie mit ihrem Stimmzettel auch sanktionieren können – bei Zury Ríos ist das der Fall.

Am 25. Juni wurde auch der Kongress gewählt, das Einkammerparlament. Zweit- und drittstärkste Partei wurden UNE und Semilla. Die konservative Partei Giammatteis, Vamos, erhielt aber mit 39 die meisten Sitze, die MLP gar keinen.
Im Parlament stellen die konservativen Parteien zusammen weiterhin die Mehrheit. Nun kommt es darauf an, dass für den 20. August in allen Ecken des Landes mobilisiert wird, dass die Guatemaltek:innen an den Wahlurnen ein zweites Votum gegen den »Pakt­ ­der Korrupten« erbringen. Das wird nicht einfach, denn die Rechte warnt schon wieder vor Kommunismus und ökonomischer Krise und sie hat große Teile der Medien hinter sich. Guatemala benötigt nun eine Minimalagenda, einen gesellschaftlichen Kompromiss, in dem auch die indigene Bevölkerung eine zentrale Rolle spielt, und den traue ich dem Movimiento Semilla durchaus zu.

Sie haben also die Hoffnung, dass Arévalo die Stichwahl gewinnen wird?
Ja, Hoffnung habe ich. Sie stirbt zuletzt, heißt es nicht umsonst. Ich hoffe, dass ein transparentes Kabinett mit ehrenwerten Menschen zustande kommt.

Wäre das die Voraussetzung für Sie, aus dem Exil zurückzukehren?
Ja, natürlich und das gilt nicht nur für mich, sondern für viele Guatemal­tek:innen im Exil, in den USA, in Mexiko, in Mittelamerika und Europa.

Welche Rolle könnten und sollten die USA und die Europäische Union nun spielen?
Sie können den Prozess einer Demokratisierung stärken, aber die Politik ist meist von der Wirtschaft dominiert. Die USA und die Europäische Union haben in den letzten Jahren sehr vorsichtig reagiert, die USA vor allem aus Angst vor Einwanderung, da viele Guatemaltek:innen keine Perspektiven in ihrem eigenen Land sahen und sehen. Dabei wurde oft ein Auge zugedrückt, wenn es um die omnipräsente Korruption ging. Die USA haben mit der sogenannten Engel-Liste ein Instrument entwickelt, das die Einreise von korrupten Politiker:innen aus Mittelamerika verbietet. In Europa fehlt so ein Instrument.


Jordán Rodas war von 2017 bis August 2022 war er Ombudsmann für Menschenrechte in Guatemala. Im Amt kritisierte er die Korruption der Regierung des evangelikalen Präsidenten Jimmy Morales (2016–2020) und der derzeitigen des erzkonservativen Alejandro Giammattei. Wie Rodas wurden in den vergangenen Jahren Dutzende Journalisten, Staatsanwälte und Richterinnen, die Korruption im Land bekämpften, entlassen, strafrechtlich verfolgt oder ins Exil getrieben. Bei der Präsident­schaftswahl in Guatemala am 25. Juni wollte Rodas für die Partei Movimiento para la Liberación de los Pueblos (Bewegung für die Befreiung der Völker, MLP) als Vizepräsident kandidieren; die linke indigene Thelma Cabrera hätte deren Präsident­schafts­kandidatin werden sollen. Beide wurden jedoch vom Wahlgericht von der Wahl ausgeschlossen.