Der Filmemacher Jörg Buttgereit hat seine Autobiographie vorgelegt

Das Schaufenster des Underground

Gelernter Dekorateur, ungelernter Regisseur: Jörg Buttgereit hat ein Notizbuch herausgebracht, in dem er nicht nur die Geschichte seines Lebens und seiner Filme, sondern auch Episoden der vergessenen Westberliner Underground-Szene erzählt.

In dem »Papiploitation« überschriebenen Kapitel seines neuen Buchs »Nicht jugendfrei!« berichtet Jörg Buttgereit, wie er seinen Vater Erich, dem er mit seinem 1982 gedrehten Kurzfilm »Mein Papi« eine Hommage erwiesen hat, eines Tages tot im Fernsehsessel fand: »Wie an jedem Abend schaue ich auch am 8. März 1993 in der Wohnung von Papi vorbei, um zu sehen, ob es ihm gut geht und ob er irgendetwas benötigt. Er sitzt wie immer in seinem Fernsehsessel, doch sein Kopf ist nach hinten gefallen und sein Mund steht weit offen. Im Fernsehen läuft das ›Glücksrad‹. Neben ihm auf dem Couchtisch steht ein halb gefüllter Kaffeebecher mit einem angebissenen Stück Käsekuchen. Um diese Zeit noch Kaffee und Kuchen? ›Papi!‹ Ich stupse ihn an seiner Schulter. ›Papi? Hörst Du mich?‹ Papi ist tot. Er hat diverse Hirnoperationen und Herzanfälle überstanden, um jetzt und hier gemütlich vor dem Fernseher zu sterben.«

Die Szene ist in mancher Hinsicht charakteristisch für Buttgereits Werk insgesamt. Sein Vater war Bierfahrer, sein Lieblingsgericht »Nudeln mit Wurscht«, Lieblingskleidung zu Hause das nicht mehr ganz so weiße Unterhemd. Er verkörperte in vieler, aber eben nicht in jeder Hinsicht die stumpfe Hoffnungs- und Zukunftslosigkeit des bundesdeutschen Kleinbürgertums, dem Buttgereit entstammt. Kaffee mit Käsekuchen, der Sessel vor der Glotze und der allabendliche Konsum von »Glücksrad« als Ersatz für die längst verschwundene wirkliche Freude symbolisieren jene enge Gemütlichkeit und enttäuschte Zufriedenheit, die in Buttgereits Filmen Quelle und Gegenstand eines Horrors werden, der in erschreckende, aber starke Affekte versprechende Gegenwelten führt. Buttgereits Papa war kein Vater im bürgerlichen Sinn, kein einschüchternder, strenger, schutzgewährender Patriarch, sondern dessen gescheiterte und dadurch sympathischere Schrumpfform: ein Papi eben, den man auch so nennen durfte.

Ohne diesen Papi wäre Buttgereits Verständnis von Punk, das sich vom gängigen Punk-Pathos angenehm unterscheidet, kaum denkbar. Punk ist für Buttgereit weder ein ästhetisches Programm noch eine Lebensform, sondern bezeichnet eine bestimmte Weise, sich zur Wirklichkeit zu verhalten: schnodderig-distanziert und dennoch anteilnehmend, burschikos und abgeklärt, aber offen für die erbärmlichen und frus­trierenden Seiten des Lebens. Weil Buttgereits Papi, obwohl er kein Punk, sondern Arbeiter war, für diese Haltung einstand, ziert er ebenso das Cover der 1982 erschienenen »Fleisch EP« der Punk-Band Soilent Grün wie das der 2020 veröffentlichten Vinyl-Single »Morgens Pauken« von den Ärzten. (Bela B. und Farin Urlaub hatten Soilent Grün mitgegründet.) Buttgereits Redewendung von der »Papiploitation« ist nicht zynisch, sondern liebevoll zu verstehen. Die Filme, Videos, Comics, Bild-Ton-Text-Collagen und sonstigen Experimente Buttgereits haben den Charakter des Familiären, aber nicht weil er Angehörige und Freunde für die Zwecke der eigenen künstlerischen Arbeit ausgebeutet hätte, sondern weil das Nahe, Intime und Alltägliche Bewegungsgesetz seiner Kunst ist.

Werkgeschichtlich hat das Familiäre seinen Ursprung im Prekären: im Mangel an Geld, Institutionen, Mitarbeitern und Infrastruktur, die dazu nötigten, bei der Arbeit auf das zurückzugreifen, was verfügbar war. In den frühen achtziger Jahren ging Buttgereit in Westberlin in die Künstlerkneipe »Risiko«, in der Blixa Bargeld am Tresen arbeitete, war mit Bandmitgliedern der Einstürzenden Neubauten und der Tödlichen Doris befreundet und führte seine Kurzfilme auf Bargelds Super-8-Projektor und seine ersten längeren Filme im Punkrock-Club »SO36« vor. Seinen frühen Film »Blutige Exzesse im Führerbunker«, in dem Buttgereits Kumpel Norbert Hähnel und dessen Freundin Dorothee Bosky Adolf Hitler und Eva Braun spielten, hat er on location in Hähnels Schallplattengeschäft »Scheißladen« gedreht, wo Hähnel die Musik von Punkbands, der Neuen Deutschen Welle, Experimentalmusik sowie selbstbespielte Tonbandkassetten verkaufte.

Hähnels Lebensgeschichte wäre ein eigenes Buch wert. Er trat in den frühen Achtzigern mit blonder Perücke verkleidet im »SO36« als Der wahre Heino auf, wo er Heino-Lieder zum Playback performte, er fungierte zeitweise als »Vorband« der Toten Hosen und erfand sich eine abenteuerliche Biographie mit einem Aufenthalt in Afrika und einem fiktiven Vertragsstreit mit der Schallplattenfirma EMI. Der echte Heino, bekannt für seine Humorlosigkeit, verklagte Hähnel 1986 auf 10.000 Mark Ordnungsgeld; 1987 schloss Hähnel den »Scheißladen« und gründete die Kneipe »Enzian«, die bis 2007 bestand.

Punk ist für Buttgereit weder ein ästhetisches Programm noch eine Lebensform, sondern bezeichnet eine bestimmte Weise, sich zur Wirklichkeit zu verhalten: schnodderig-distanziert und dennoch anteil- nehmend, burschikos und abgeklärt, aber offen für die erbärmlichen und frustrierenden Seiten des Lebens.

Buttgereits Buch verleitet dazu, statt über ihn über andere, vergessene Protagonisten des Westberliner Underground-Milieus des achtziger Jahre zu sprechen. Die Digression ist ein Grundprinzip seines Erinnerungsalbums. Ob er anlässlich der Premiere seines 40minütigen Films »Hot Love« 1985 im vergleichsweise repräsentativen Kino »Sputnik« in Berlin-Wedding an die von Grenzsoldaten bewachten Geisterbahnhöfe zurückdenkt, die man bei der Benutzung der U-Bahnlinie 6 in Westberlin durchfahren musste, um vom westlichen Süden in den westlichen Norden zu gelangen; ob er Erinnerungen an von ihm gestaltete Kinonächte im »Xenon« mit Filmen von Russ Meyer und John Waters zum Anlass für Rückblenden in die schwule Subkultur Berlin-Schönebergs nutzt; oder ob er mit im Buch abgebildeten Ausschnitten und Ausrissen aus den Westberliner Stadtmagazinen Zitty und Tip, dem Horrorfilm-Magazin Splatting Image, für das er gearbeitet hat, und anderen Nischen- und Kleinstzeitschriften die Öffentlichkeiten ins Gedächtnis ruft, die der Sub- und Underground-Kultur der achtziger Jahre zur Verfügung standen: Immer lässt sich Buttgereit durch das Sprechen über sich selbst zum Sprechen über andere und durch das Sprechen über andere wieder zu sich zurück führen.

Dass Buttgereit sein Schaffen hindurch der Form des mittellangen Films zuneigte, der weder Kurzfilm noch Spielfilm ist, passt zu diesem Gestus. Noch die Reihe von Splatter-Horrorfilmen, mit der er seit den späten Achtzigern berühmt wurde, blieb dem mittellangen Genre treu: Vom nachtraumhaften Körper- und Sexualhorror in »Nekromantik« (1988) und »Der Todesking« (1990) über »Nekromantik 2« (1991) bis zu dem Serienkiller-Film »Schramm« (1993) hat er nur bei der »Nekromantik«-Fortsetzung auf den abendfüllenden Langfilm zurückgegriffen, alle anderen bringen es auf maximal 70 Minuten.

Das Genre des Mittellangfilms hat nicht den künstlerischen Anspruch des Kurzfilms, der oft zu avantgardistischer Hybris neigt, aber auch weniger immanente Geduld als ein Langfilm. Es ist die angemessene Ausdrucksform desjenigen, der, was er tut, sehr ernst nimmt, aber nie so ernst, dass er nicht zwischendurch auch Freunde trifft, Comics liest, anderer Leute Filme sieht oder bei Papi auf Kaffee und Kuchen vorbeischaut. In einem Interview, das sich ebenfalls in dem Band findet, betont Buttgereit, wie viel er ästhetisch und beruflich Quentin Tarantino verdanke, hält aber auch fest, dass er aus der Welt der »Schmuddelfilme« und des »Bahnhofskinos« komme, als »ausgebildeter Dekorateur« – unter anderem für das Kaufhaus Wertheim – »Schreiben und Regie nie gelernt« habe, und dass er diese Erfahrungen und Nichterfahrungen gleichermaßen zu bewahren sucht.

Als die Arbeit eines phantasievollen, geschickten und zuverlässigen Dekorateurs stellt sich auch Buttgereits Erinnerungsalbum dar: Überreich bestückt mit Notizen, Fotografien, Brief- und Zeitungsausschnitten, alten Filmplakaten, Markenlogos und Schallplatten-Cover, findet es seinen adäquaten Leser nicht im Filmgelehrten, der es vom Anfang bis zum Ende durcharbeitet, sondern im faszinierten Blätterer, der nie zum Ende kommt. Vielleicht hätte auch Buttgereits Vater es so gelesen.


Buchcover

Jörg Buttgereit: Nicht jugendfrei! Tagebuch aus West-Berlin. Martin-Schmitz-Verlag, Berlin 2023, 368 Seiten, 36 Euro