Esther Kinsky hat mit »Weiter Sehen« eine Hommage an das Kino geschrieben

Ohne Ausblick

Ein verfallenes Kino in einer Provinzstadt neu eröffnen – diesen Traum verfolgt die Hauptfigur ins Esther Kinskys Buch »Weiter Sehen«. Währenddessen macht sie sich auch über die theoretischen Fragen ­bezüglich des Kinoraums Gedanken.

Als die Filmförderungsanstalt im Februar die Kinozahlen für das Jahr 2022 veröffentlichte, dürfte die deutsche Kinobranche erleichtert gewesen sein: Das große Kinosterben, das viele wegen der monatelangen pandemiebedingten Schließungen befürchtet hatten, ist ausgeblieben. Im Jahresvergleich wuchs die Anzahl der Kinos sogar um 0,4 Prozent auf derzeit 1.730 Kinos. Bei den Ticketverkäufen sieht es allerdings düsterer aus. Wurden 2019 noch 118,6 Millionen Tickets verkauft, waren es 2022 nur mehr 78 Millionen – ein Rückgang um 34 Prozent.

Den enormen Einnahmeverlust können viele Kinos nur durch die umfangreichen staatlichen Förderprogramme auffangen. Die relativ glimpfliche Pandemiebilanz sollte jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass sehr wohl ein schleichendes Kinosterben in Deutschland stattfindet. In den vergangenen 22 Jahren haben insgesamt 135 Kinos ihren Betrieb eingestellt. In manchen Städten beschleunigte die Gentrifizierung dieses Verschwinden. In Mainz beispielsweise weichen Ende des Jahres die letzten beiden Programmkinos einem Neubau. Und in München mussten in den vergangenen zwölf Jahren ganze sieben Kinos aufgrund von Mieterhöhungen oder Erbstreitigkeiten schließen. Zuletzt traf es in der Stadt eines der ältesten der Welt: Im Gabriel-Filmtheater lief 2019 nach 112 Jahren seiner Existenz das letzte Mal ein Film über die Leinwand.

Bei all der Zahlenhuberei gerät schnell aus dem Blick, was mit jedem geschlossenen Kino verlorengeht. Denn dabei handelt es sich nicht um beliebige Räume, in denen eben Filme auf eine Leinwand projiziert werden. Es sind einzigartige, historische Gebäude, in denen über Jahrzehnte hinweg immer wieder zufällige, anonyme Kollektive zusammentreten, um Filme zu sehen. Die deutsche Schriftstellerin Esther Kinsky findet dafür folgende Worte: »Das Kino war immer ein Ort, an den man die eigenen Einsamkeiten trug, doch früher trug man sie dorthin im Bewusstsein, unter anderen Einsamkeitsträgern Platz zu nehmen, legte filmhungrig den Weg ins Kino zurück und filmsatt den Rückweg, streifte die Welt draußen. Man war nicht sein eigener Vorführer, sondern ergab sich dem Strahl des Projektors, der von fremder Hand be­tätigt war. Man erlebte, erfuhr, tauchte ein, ohne auch nur einen Handgriff für die Vorstellung auszuführen oder zu veranlassen. Man überließ sich dem Ort, um zu sehen.«

Wie es der Titel des Buchs anklingen lässt, geht es Kinsky um die Frage, wie ein »Weiter Sehen« überhaupt möglich ist, wenn das kollektive Seherlebnis allmählich zugunsten einer Privatisierung der Filmerfahrung verschwindet.

Das schreibt sie in ihrem neuen Buch »Weiter Sehen«, in dem sie von dem eklatanten Verschwinden der Kinos und dem damit einhergehenden Verlust der gemeinsamen Seh­erfahrung erzählt. Es handelt sich dabei nicht, wie man zunächst annehmen könnte, um eine filmhistorische Abhandlung zum Dispositiv Kino, sondern um eine feinsinnig formulierte, literarisch-dokumentarische Erzählung über den Verlust dieses Erfahrungsraums am Beispiel eines einzelnen Kinos.

Die namenlose Erzählerin berichtet davon, wie sie auf einer ihrer Reisen durch den abgehängten Südosten Ungarns an der Grenze zu Rumänien in einem fast ausgestorbenen Dorf halt macht, »das mal eine Stadt gewesen war« und von der mittlerweile mehr als zwei Drittel der Einwohner:innen verstorben oder abgewandert sind. Auf einer ihrer fotografischen Erkundungstouren durch die malerische Landschaft und auf den staubigen Straßen des verwaisten Orts stößt sie unweit des Hauptplatzes auf das leerstehende Kino, das seit Jahren geschlossen ist. Im Schaukasten hängen noch die letzten Vorführzeiten, neben ihnen ausgeblichene Szenenfotos des ungarischen Dramas »Die Zeit steht still« (1982) von Péter Gothár. Der Titel wirkt wie ein Sinnbild für das in einen Schlummer versetzte Kino mit seinen 300 Klappsitzen, die nur darauf warten, wieder in Beschlag genommen zu werden. Nur der feucht-modrige Geruch im Foyer und der Fliegendreck auf den Fensterbänken und am Boden lassen den jahrelangen Winterschlaf des Kinos erahnen. Angetrieben von ihrer eigenen Kinoleidenschaft möchte die Erzählerin, bei der es sich um die Autorin selbst handeln dürfte, dieses »Prachtkino in einem Niemandsland der Möglichkeiten« wieder zum Leben erwecken.

Wie es der Titel des Buchs bereits anklingen lässt, geht es Kinsky um die Frage, wie ein »Weiter Sehen« überhaupt möglich ist, wenn das kollektive Seherlebnis allmählich zugunsten einer Privatisierung der Film­erfahrung verschwindet. Denn »Kino hatte früher Präsenz, es hatte Gewicht in fast jedem Leben, nicht als Ausnahmeerfahrung, sondern als Normalität in einer weniger privatisierten Welt«, wie sie gleich zu Beginn schreibt.

Es gab in den vergangenen 100 Jahren keinen anderen Ort, der für die Art, wie Menschen auf sich selbst und die Welt blicken, so bestimmend war wie das Kino. Seit der ersten Stunde der Filmtheorie wird die Leinwand gerne als Fenster zu Welten, Kulturen und Gesellschaften verstanden. Das Kino: ein Ort, an dem man weiter sehen kann, als es die Beschränkungen des Alltags zulassen. Eine populäre Sichtweise, die auch Kinsky teilt.

Ihr geht es aber weniger um das, was auf der Leinwand zu sehen ist, als vielmehr um den Ort des Filmsehens selbst: »Wichtig waren nicht nur die Filme, sondern auch der Ort. Das, was sich auf der Projektions­fläche entfaltete, war unweigerlich an diesen Raum gebunden, an das Dunkel mit Ausblick in eine Welt, die, wiewohl kadriert, größer schien als die eigene, von anderen Grenzen bestimmt.« Als die Erzählerin für ein paar Tage nach Budapest reist, können die Nachbar:innen ihrer dortigen Unterkunft kein Verständnis für ihr Vorhaben aufbringen. Warum sollte man noch ins Kino gehen? Denn wenn man dort gesehen wird, »meinen alle, man hätte kein Geld für einen Fernseher. Oder für ein Videogerät. So einfach ist das.«

Kinosaal in der Einöde

Kinosaal in der Einöde. Bild aus dem Buch »Weiter Sehen«

Bild:
Esther Kinsky

Die Erzählerin lässt sich nicht beirren, kauft das »Mozi« genannte Kino (die ungarische Kurzform für Mozgókép, was so viel wie »bewegte Bilder« bedeutet) und zieht in den halbverlassenen Ort in der »Landschaft der Leere« und »der großen Langsamkeit«. Es sind eine innere Sehnsucht nach der verlorengegangenen Utopie des Kinos und der Drang, »einen Raum des gemeinsamen Sehens« wiederzuerwecken, die sie in ihrem fast schon größenwahnsinnigen Vorhaben antreiben.

Man kann nur spekulieren, wann sich die Geschichte zugetragen hat, es dürfte wohl Anfang des neuen Jahrtausends gewesen sein. Und immer wieder stellt sich beim Lesen die Frage, wie viel Fiktion in der so nachdenklichen wie poetischen Erzählung steckt. Die zahlreichen im Buch abgedruckten Fotografien des verwaisten Kinos zeugen zumindest von seiner Existenz.

Gemeinsam mit ein paar wenigen Mitstreiter:innen macht sich die ­Erzählerin an die Renovierungsarbeiten. Einer von ihnen ist Józsi, der über 20 Jahre als Vorführer im Kino arbeitete und von dessen glanzvollen Tagen erzählt, vom internationalen Filmclub am Dienstag, als Filme von Leone, Truffaut oder Fassbinder gezeigt wurden. Es wird geputzt, entstaubt und gewaschen. Auch der analoge Filmprojektor muss wieder instand gesetzt werden. Die notwendigen Ersatzteile lassen sich auf einem Flohmarkt in Budapest finden.

Das Vorhaben, in der ungarischen Provinz ein Kino wiederzueröffnen, scheitert letztlich auf ganzer Linie. Am Tag der Eröffnung wird »Mein 20. Jahrhundert« (1989) von Ildikó Enyedi gezeigt. »Der Film war ungarisch, poetisch und witzig, und ganz und gar ein Film, der für die Leinwand gemacht war, für den Blick aus dem Dunkel.« Und wieder scheint es so, als würde der Filmtitel zur Erzählerin sprechen. Kann das Kino, das wie keine andere Kulturtechnik das 20. Jahrhundert geprägt hat, in die Zukunft getragen werden? Zur Filmvorführung kommt nur eine Handvoll Menschen. Draußen donnert und regnet es. Mehrmals fällt der Strom aus. Am Ende reißt der Film. Die Vorstellungen der kommenden Tage sind nicht besser besucht, manchmal kommt niemand. Das Kino muss wieder verkauft ­werden.

Am Ende ist es vor allem eine Erzählung über Verlust und Mangel. Ein Verlust an Kultur und ein Mangel an jeglicher Hoffnung, diesen Verlust je wieder ausgleichen zu können. Nachdem Kinsky 16 Jahre lang Kinos sterben sah, »in London, in Berlin, in Budapest und in Triest und Paris, manche leise, manche lauter, manche schnell und manche schleppend«, kehrt sie nach Ungarn zurück. Der Ort wirkt noch verlassener, das Kino noch ruinöser. Von der Fassade des Gebäudes ist der Mozi-Schriftzug längst verschwunden, die Sitze sind aus ihren Verankerungen gerissen. Esther Kinsky findet für diesen Verlust in ihrem meisterhaft geschriebenen Buch hoffnungslose und unvergleichlich melan­cholische Worte: »Das war vom Kino geblieben, leere, ausgehebelte Plätze ohne Ausblick. Ohne eine Richtung, in die das Auge sehen, geschweige denn weiter sehen konnte.«

Esther Kinsky

Esther Kinsky

Bild:
Heike Steinweg


Esther Kinsky: Weiter Sehen. Suhrkamp-Verlag, Berlin 2023, 200 Seiten, 24 Euro