Augenzeugenberichte aus der Ukraine in einer Comicreportage

Asche, Elend, Alltag

In der Graphic Novel »Berichte aus der Ukraine: Tagebuch einer ­Invasion« schildert der Zeichner Igort die Grausamkeiten des Kriegs aus der Perspektive von Soldaten und Zivilisten, für die die Gewalt alltäglich geworden ist.

Mit grobem Packpapier sind die Zeichnungen auf den Seiten hinterlegt, oft liniert, besonders wenn auf bildhafte Darstellungen kurze erklärende Texte folgen. Der italienische Zeichner Igort hat während seiner ausgedehnten Aufenthalte in der Ukraine und in Russland mit vielen Leuten gesprochen. Auf solchen Befragungen und Gesprächen basierten bereits seine Comicreportagen über die beiden Nachfolgestaaten der Sowjetunion: »Berichte aus Russland: Der vergessene Krieg im Kaukasus« und »Berichte aus der Ukraine: Er­innerungen an die Zeit der UdSSR«.

Als die russische Armee auf Befehl des neuen Zaren Wladimir Putin am 24. Februar 2022 in die Ukraine einmarschierte, telefonierte der Zeichner von Italien aus mit vielen Leuten in der Ukraine, wie er zu Beginn seines Berichts schildert: »Seit Tagen klingelt das Telefon ohne Unterbrechung. Die Nachrichten, die ihr lesen werdet, sind Augenzeugenberichte von Frauen und Männern unter Belagerung. Menschen, die sich niemals hätten träumen lassen, im Rampenlicht zu stehen. Menschen, die ein ganz normales Leben führten.«

Das ist die Vorgeschichte von Igorts Comicreportage über die Ukraine. Der italienische Zeichner gehörte Anfang der achtziger Jahre zu den Mitgründern der Künstlergruppe Valvoline in Bologna, die ab 1981 das Independent-Comicmagazin Il Pinguino gestaltete.

Meist geht es um die Mühen des Alltags im Kriegszustand. Oder darum, dass es auch in diesem Krieg Profiteure und Verlierer gibt.

In seinem neuen Band schildert er auch, wie schwer es ihm fällt zu verstehen, was dieser Krieg bedeutet. Die Erlebnisse, die ihm Bekannte schilderten, verdichtet er zu einer Chronik des fortgesetzten Schreckens. Igort erscheint als guter Zuhörer, routinierter Erzähler und großartiger Zeichner. Die Dominanz erdfarbener Braun-Grau-Schattierungen gibt der Graphic Novel eine Schwere, die sich nicht abschütteln lässt. Klare, reine Farben – es gibt sie nicht, über allem liegen »Elend und Asche«, wie auch der Titel des ersten Kapitels lautet.

Das Tagebuch wird von Kalenderblättern gegliedert – Tag eins bis 98 der russischen Invasion und der verzweifelten Gegenwehr. »Ein Krieg ist immer nur ein schmutziger Krieg. Keine Helden, kein Ruhm, nur Elend«, heißt es auf der ersten Seite. Diese Haltung zieht sich durch den gesamten Bericht. Weder die markigen Durchhalteparolen des ukrainischen Präsidenten noch die aggressive Unterwerfungsrhetorik des Kreml-Herrschers spielen hier eine große Rolle. Zwar kommen auch jene Ereignisse vor, die durch die Medien gegangen sind, aber sie werden ganz beiläufig aus der unmittelbaren Wahrnehmung der Augenzeugen geschildert. So erklärt eine ältere Ukrainerin, dass sie die Roma kenne, die mit einem Traktor einen Panzer der russischen Armee abtransportiert haben – eine aberwitzige Aktion, die weltweit gefeiert wurde.

Meist geht es um die Mühen des Alltags im Kriegszustand. Oder darum, dass es auch in diesem Krieg Profiteure und Verlierer gibt, Solidaritätsparolen hin oder her. An Tag 14 der Invasion hat eine Ukrainerin endlich eine Überweisung von umgerechnet 80 Euro bekommen. In den kurzen Feuerpausen einen offenen Bankschalter zu finden, ist für sie aber nicht einfach – und dann verlangt die Bank auch noch 20 Prozent Provision auf die Auszahlung.

Die Angst der Menschen auf beiden Seiten der Front, für einen Saboteur oder Kollaborateur gehalten zu werden, taucht in der Reportage mehrmals auf. An einer Stelle heißt es: »Red so wenig wie möglich. Überleg genau, was du sagst. Wir sind im Krieg. Den Nachbarn der Romanchyuks haben sie abgeholt. Ein freundlicher Mensch, der noch keiner Fliege etwas zuleide getan hatte. Man hat nie wieder von ihm gehört. Die einen sagen, er sei ein Spion, die anderen, es sei alles ein Missverständnis.« Dazu dunkle Zeichnungen, auf denen wenig mehr als die die schreckgeweiteten Augen eines ukrainischen Lokführers zu sehen sind. Der Mann muss mit seinem Kollegen einen Zug mit Waffen an die Front fahren, Soldaten haben es ihm befohlen. Und an anderer Stelle: »Viele russische Verbindungsleute geben sich als Ukrainer aus. Sie sind Sabotage-Agenten, hinterlassen Kreidemarkierungen auf potenziellen zivilen Zielen. Das Misstrauen wächst.«

Bilder aus Butscha

Bilder aus Butscha, aus dem Kapitel »Eine Stadt in Schutt und Asche«

Bild:
Reprodukt

Igort greift auch die Jagd auf Deserteure in der Ukraine und die nach dem Kriegsrecht verbotene Ausreise von Männern im kampffähigen Alter von 18 bis 60 Jahren auf. Da ist Maksim, der eigentlich in Belgien wohnt. Nachdem seine in der Ukraine lebende Mutter an Covid gestorben ist, wollte er seine Familie wiedersehen. Dann brach der Krieg aus und er saß in der Falle.

Es ist ein Alltag, in dem nichts mehr sicher ist. Immer wieder schlagen Raketen in Häuser ein.

Ausführlich widmet Igort sich dem Schicksal des jungen russischen Marinesoldaten Evgenij, der aus Sibirien in die Ukraine kam, um, wie er glaubte, an einer Übung teilzunehmen. Als er den Dienst quittieren will, wird er von seinen »Kameraden« erschlagen.

Sascha möchte wie viele junge Männer nur raus aus der Ukraine – aber er darf es nicht. »Er hat Glück, dass sie ihn nicht einberufen haben, jetzt verkauft er Eier, um zu überleben.« Dazu Bilder einer Dorfstraße, kein Mensch ist draußen zu sehen. Dann die nächste Familie: »Babuschka ist verzweifelt, ihr Neffe will sich auf die Reise der Hoffnung begeben, mit seiner kleinen Tochter und seiner Frau. Sie wollen raus, halten es nicht mehr aus. Die Einzige, die klar denken kann, ist die, die weiß, was auf dem Spiel steht. ‚Ihr habt doch gehört, dass Kriegsrecht gilt, oder? Wisst ihr, was es heißt, wenn unsere Leute euch anhalten?‘«

Die im Stil alter Schreibmaschinenschrift geletterten Buchstaben passen zu den Bildern der Kargheit, der Angst. Am Tag 26 der Invasion zeigt Igort die Leichen der Zivilisten in den Straßen von Butscha nach dem Abzug der russischen Armee. Die Abstraktion der Zeichnung ermöglicht einen Blick auf das Massaker. Die Zeichnung, die einen vom Fahrrad geschossenen Mann zeigt, wirkt viel erschütternder als die obszönen Medienbilder, die die Leichen in Nahaufnahme filmten. Über die 64. Motorschützenbrigade der russischen Armee, die für die Gräuel von Butscha verantwortlich sein soll und von Putin mit dem Ehrentitel »Garde-Status« bedacht wurde, heißt es in dem Comicbericht: »›Die brutalen Burjaten sind der Abschaum der russischen Armee. Sie sind zu allem fähig‹, sagt Jevhen. ›Sie gehören einer ethnischen Minderheit mongolischer Herkunft an und kommen aus verarmten sibirischen Dörfern (…) Weil sie den Mongolen näherstehen als den Slawen, kennen sie kein Mitgefühl und werden an vorderster Front eingesetzt.‹«

Auch wenn es ein Zitat ist, das dokumentieren soll, wie die Menschen vor Ort reden, wird hier die Brutalität in Butscha mit der Herkunft der Täter erklärt. Andere Stimmen, die diese Gräuel einordnen und kommentieren, fehlen. Aber dieser Ausreißer und einige andere, wie etwa die verharmlosende Darstellung von Stepan Bandera, ändern nicht den Gesamteindruck: Igort gelingt es, die Aufmerksamkeit auf die alltäglichen Schrecken des Kriegs zu lenken, den die russischen Invasoren jederzeit beenden könnten, wenn sie nur wollten.


Buchcover

Igort: Berichte aus der Ukraine: Tagebuch einer Invasion. Aus dem Italienischen von Myriam Alfano. Reprodukt-Verlag, Berlin 2023, 168 Seiten, 26 Euro