Abhängig vom Atomstrom
Auch die französischen Atomkraftwerke waren von den Streiks und Demonstrationen der vergangenen Wochen betroffen. Auf dem Höhepunkt der Streiks im März fiel die Kraftwerksleistung im Land – zu ihr tragen Atomkraftwerke rund 70 Prozent bei – wegen Arbeitsniederlegungen um 15 000 bis 20 000 Megawatt ab. Dies entspricht der Leistung von etwa 20 Reaktoren.
Doch auf den Ausbau der französischen Atomwirtschaft hat das keinen Einfluss. Zwar löste es eine innenpolitische Krise aus, dass die Regierung die umstrittene Rentenreform am Parlament vorbei durchsetzte. Doch die Misstrauensanträge mehrerer Oppositionsfraktionen scheiterten am 20. März, und bereits am folgenden Tag nahm die Nationalversammlung mit 402 gegen 130 Abgeordnetenstimmen in erster Lesung das sogenannten Atomenergiebeschleunigungsgesetz an.
Zu verdanken war dieses Mehrheitsvotum einer wegen ansonsten unüberwindlicher politischer Gegensätze in der französischen Politik derzeit seltenen Allianz verschiedener Kräfte. Neben dem Regierungslager, das den Entwurf unter dem offiziellen Titel »projet de loi de relance du nucléaire« (Gesetzentwurf für die Wiederbelebung des Nuklearsektors) vorgelegt hatte, stimmten ihm auch die Oppositionsfraktionen der konservativen Partei Les Républicains (LR) sowie des rechtsextremen Rassemblement national (RN, Nationale Sammlung) zu.
Die politische Rechte nahezu aller Schattierungen, inklusive dem rechtsextremen Konkurrenten des RN, Éric Zemmour, hatte in den Wahlkämpfen 2022 den Ausbau der Atomenergie in Frankreich unterstützt, im Namen von energiepolitischer nationaler Unabhängigkeit, Souveränität und Stärke. Zustimmung kam aber auch aus der Linken, von der Fraktion der französischen KP (PCF, Parti communiste français). Seine Partei habe schon immer zu den »eifrigen Verteidigern der Nuklearindustrie« gehört, kommentierte der PCF-Vorsitzende Fabien Roussel. Hingegen stimmten die Abgeordneten der linkspopulistischen Wahlplattform La France insoumise und der Grünen gegen den Entwurf, ebenso, nach einigem Zögern, der sozialdemokratische Parti socialiste.
Zustimmung für den Ausbau der Atomwirtschaft kam auch von der Fraktion der französischen KP. Seine Partei habe schon immer zu den »eifrigen Verteidigern der Nuklearindustrie« gehört, kommentierte ihr Vorsitzender Fabien Roussel.
Der Gesetzentwurf, der nun in den konservativ dominierten Senat zurückgeht – das Oberhaus des französischen Parlaments hatte bereits am 24. Januar in erster Lesung zugestimmt –, sieht in erster Linie die Aufhebung der unter der Präsidentschaft François Hollandes (2012 bis 2017) beschlossenen gesetzlichen Vorgabe einer Beschränkung des Atomstromanteils im »Energiemix« auf 50 Prozent bis 2035 vor. Hinzu kommt, dass keine öffentlichen Genehmigungsverfahren mehr für den Bau von Reaktoren notwendig sind, wenn diese an bereits bestehenden Standorten von Atomkraftwerken oder in der Nähe derselben errichtet werden sollen. Dies verkürzt die Bauzeiten und schließt wirksame Einspruchsmöglichkeiten aus.
Eine weitere Bestimmung, die auf Antrag der konservativen LR-Fraktion in den Gesetzentwurf aufgenommen wurde, betrifft die Verschärfung der Strafen für Personen, die unbefugt in Atomanlagen eindringen. Dabei geht es nicht um die Vorbereitung und Verübung von Terroranschlägen – auf solche standen und stehen ohnehin sehr hohe Strafen –, sondern um das Eindringen ohne Absicht einer Beschädigung.
Dieser Artikel 13 des Gesetzestexts ist eine Reaktion auf Aktionen von Greenpeace. Den Mitgliedern der Umweltschutzorganisation gelang es in jüngerer Vergangenheit wiederholt, auf das Gelände von Atomkraftwerken zu gelangen und sich dort zu filmen, um zu dokumentieren, dass die drakonischen Sicherheitsbestimmungen in der Praxis wenig Wirkung zeigen. Mit solchen Aktionen erregte Greenpeace beispielsweise 2017 in den Reaktoren im lothringischen Cattenom sowie in Cruas im Département Ardèche und 2020 im südfranzösischen Atomkraftwerk Tricastin Aufsehen. Letztere Aktion führte im September 2021 zu einer als relativ milde geltenden Verurteilung der Teilnehmerinnen und Teilnehmer zu je 300 Euro sowie der Organisation Greenpeace als Veranstalterin zu 20 000 Euro Geldstrafe.
Insbesondere die Fraktion des RN ereiferte sich im Laufe der Parlamentsdebatte und echauffierte sich über »Terroristen«, zu denen die Rechtsextremen Greenpeace-Aktive zählen – die Nichtregierungsorganisation gilt in diesen Kreisen seit langem als eine Art verlängerter Arm der »Neuen Weltordnung«, die nur die französische Energiesouveränität aushebeln wolle. Die mit Vehemenz vorgetragenen Hassausbrüche des RN führten zwar zu Reaktionen auf der Linken, verhinderten jedoch nicht die Annahme des Artikels 13, der die Anhebung der bislang angedrohten Geld- und Haftstrafen vorsieht.
Eine weitere Bestimmung, die in der Öffentlichkeit zu einiger Kritik führte, hätte die Auflösung der Strahlenschutzbehörde IRSN (Institut de radioprotection et de sûreté nucléaire) respektive deren Integration in die Atomaufsichtsbehörde Autorité de sûreté nucléaire (ASN) vorgesehen. Diese fungiert vor allem als Genehmigungsinstanz, ordnet aber auch Wartungs- und Reparaturarbeiten an Reaktoren an.
Eine Bestimmung, die in der Öffentlichkeit zu einiger Kritik führte, hätte die Auflösung der Strahlenschutzbehörde IRSN (Institut de radioprotection et de sûreté nucléaire) vorgesehen.
Das geplante Verschwinden des gesonderten, für den Schutz der Bevölkerung verantwortlichen Amts betrachteten Kritiker mit Argwohn. Gegen dieses Vorhaben trat am 20. Februar ein Teil der insgesamt 1 700 Beschäftigten des IRSN, dessen Belegschaft an solche Arbeitskämpfe keineswegs gewohnt ist, in den Streik. Am Vormittag demonstrierten rund 100 von insgesamt 300 Beschäftigten auf dem Gelände der südfranzösischen Atomforschungsanlage in Cadarache; eine weitere Demonstration des IRSN-Personals fand am Nachmittag in Paris statt.
Letztlich verhinderte das Votum mehrerer Oppositionsfraktionen in der Nationalversammlung die geplante Abschaffung von Strahlenschutzbehörde, der entsprechende Artikel wurde aus der dort verabschiedeten Fassung des Gesetzentwurfs entfernt. Kurz zuvor, am 6. März, waren bei Wartungsarbeiten aufgrund von Korrosionsschäden neue, tiefe Risse in den Leitungen der Reaktorblöcke 1 und 2 im Atomkraftwerk Penly im Raum Rouen sowie am Reaktorblock 3 des bereits in den späten siebziger Jahren errichteten AKW im lothringischen Cattenom entdeckt worden.
Das Problem von Korrosionsschäden, das nicht nur die bisher identifizierten Anlagen betreffen dürfte, ist chronisch – zumal sich herausstellte, dass bei den Herstellungsarbeiten im Stahlwerk im zentralfranzösischen Le Creusot, die normalerweise auf Bruchteile von Millimetern genau ausgeführt werden müssen, offenbar großzügig über Ungenauigkeiten hinweggegangen wurde, um Kosten zu sparen und schneller zu produzieren. Bei Messungen wurden die Ergebnisse einfach nach dem Komma im Millimeterbereich gerundet.
Nachdem der Kraftwerksbetreiber EDF im Januar angekündigt hatte, eine Verlängerung der Laufzeit für Atomreaktoren bis auf 80 Jahre sei »kein Tabu«, reagierte ein Teil der Öffentlichkeit besorgt. Bislang beträgt die Laufzeit 40 Jahre, im Dezember hatte die ASN den Betreiber EDF aufgefordert, den Beweis für die Sicherheit für die von ihm geforderte Laufzeit von maximal 50 Jahren zu erbringen.
Eine Mehrheit der Abgeordneten teilte die Sorgen jedoch offenkundig nicht. Oder aber sie glauben fest daran, die neue Reaktorgeneration des EPR (Europäischen Druckwasserreaktors) werde es schon richten. Dieser Reaktortyp ist nach bisherigen Plänen auf eine Lebensdauer von 60 Jahren ausgelegt. Noch immer verhindern jedoch technische Probleme die Inbetriebnahme der bisher einzigen in Frankreich errichteten Anlage dieses Typs im normannischen Flamanville; sie war ursprünglich für 2012 vorgesehen. Weltweit läuft derzeit nur ein Reaktor dieses auf einer deutsch-französischen Industriekooperation beruhenden Typs, nämlich im chinesischen Taishan. 14 solcher Reaktoren sollen im Rahmen des derzeit debattierten Gesetzes sowie der Pläne von Präsident Emmanuel Macron in Frankreich errichtet werden.