Die Proteste gegen die Rentenreform in Frankreich dauern an

Millionen gegen Macrons Pläne

In Frankreich hat die Parlamentsdebatte über die Rentenreform begonnen, die Proteste dauern an.

Ergibt die Kombination aus 47-1 und 49-3 eine explosive Mischung? Was wie eine Aufgabe aus dem Chemieunterricht wirkt, entpuppt sich als brisante politische und verfassungsrechtliche Frage. Sie betrifft die am Montag in Frankreich begonnene Parlamentsdebatte über die geplante Rentenreform – und bezieht sich auf die Modalitäten von deren Inkrafttreten. Die Reform soll das gesetzliche Mindestalter für den Renteneintritt von bislang 62 auf künftig 64 Jahre anheben – wobei man in diesem Alter keine abschlagsfreie Rente bekommt, die gibt es nur nach 42, künftig 43 Beitragsjahren oder ab einem Lebensalter von 67. Die Debatte der Abgeordneten begann mit der Ablehnung eines Nichtbefassungsantrags des linken Bündnisses Nupes. Auch ein Antrag des rechts­extremen Rassemblement national (RN), der eine Volksabstimmung über die Reform forderte, wurde abgewiesen.

Doch zurück zum Zahlenspiel: Artikel 47 Absatz 1 der französischen Verfassung erlaubt die beschleunigte Verabschiedung eines Haushaltsgesetzes. Die Regierung unter Premierministerin Élisabeth Borne hatte sich im Januar mangels einer sicheren parlamentarischen Mehrheit dafür entschieden, die heftig umstrittene Rentenreform als Nachtragshaushaltsgesetz zu deklarieren. Und Artikel 49 Absatz 3 erlaubt es, die Annahme eines Gesetzestextes im Falle ausufernder parlamentarischer Debatten oder unklarer Mehrheitsverhältnisse zu erzwingen, indem die Regierung die Vertrauensfrage stellt – verliert sie diese nicht, gilt die Vorlage ohne weitere inhaltliche Aussprache automatisch als angenommen.

Doch seit Mitte Januar haben bereits mehrfach mindestens anderthalb Millionen Menschen in über 200 französischen Städten gegen die Reformpläne demonstriert. Übergeht die Regierung die in einer parlamentarischen Demokratie ansonsten üblichen Rechte der Opposition – was die mit autoritären Zügen durchsetzte Verfassung der Fünften Republik grundsätzlich erlaubt –, untergräbt sie ihre Glaubwürdigkeit.

Diese ist bei den derzeitigen Reformplänen zum Rententhema ohnehin gering. Unter anderem weil die Rentenkassen keine Defizite, sondern sogar Überschüsse aufweisen. Das war bei den vorigen Reformen von 1993 unter dem gaullistischen Premierminister Édouard Balladur und 2010 unter dem konservativen Präsidenten Nicolas Sarkozy noch anders; jene Reform, die im Herbst 1995 unter Balladurs Nachfolger Alain Juppé geplant war, konnte dagegen durch Massenstreiks verhindert werden. Hinzu kommt, dass es selbst in der von Inflations- und Krisenangst geschüttelten Mittelschicht unpopulär ist, auch noch die Lebensarbeitszeit um zwei Jahre zu verlängern.

Das wirtschaftsliberale Lager in der Nationalversammlung wird derzeit durch die konservative Oppositionsfraktion von Les Républicains (LR) geschwächt, eine Partei, die zuletzt mehrere schwere Wahlniederlagen hinnehmen musste. Ihre Stimmen benötigen die Unterstützer Präsident Emmanuel Macrons, wollen sie nicht auf den Artikel 49-3 zurückgreifen, da sie seit Frühsommer vorigen Jahres nur noch über eine relative Mehrheit an Sitzen im Parlament verfügen. Die Partei LR forderte zwar selbst noch in ihrem letztjährigen Wahlprogramm eine Anhebung des Mindestalters für den Renteneintritt auf 65 Jahre. Dies scheint jedoch vergessen. LR, deren Abgeordnete heutzutage vor allem eine kleinbürgerliche ländliche Wählerschaft vertreten, fordert sogar eher soziale Zugeständnisse unter anderem in Form zusätzlicher Ausnahmeregelungen für Lohnabhängige, die vor Vollendung des 21. Lebensjahrs ins Arbeitsleben traten, und für Frauen mit Kindererziehungszeiten. Ob es zu einem Bündnis mit Macrons Unterstützern kommt, ist unklar.

Offen ist auch, ob die Gewerkschaften, oder zumindest einige von ihnen, zur Waffe unbefristeter Streiks greifen. Diese Woche solle dies noch nicht geschehen, beschloss das verbandsübergreifende Gewerkschaftsbündnis, die Intersyndicale, um die Protestbewegung nicht unpopulär werden zu lassen – Umfragen zufolge unterstützen sie bislang über 60 Prozent der Bevölkerung – und um die Abreise in die Schulferien am kommenden Wochenende nicht zu gefährden. Intern wendet sich der rechtssozialdemokratisch geführte Gewerschaftsverband CFDT jedoch generell gegen Streiks ohne zeitliche Befristung, er hält vor allem Demonstrationen sowie Gespräche mit der Regierung für das geeignete Mittel. Andere Positionen vertreten Teile der CGT sowie die linken Basisgewerkschaften SUD. Aus ihren Reihen erklärte Erik Meyer, einer der Sprecher der Bahngewerkschaft SUD Rail, wenn die Regierung ihr Vorhaben nicht zurückziehe, sei für seine Organisation ein unbefristeter Streik »eine Frage des Wann und nicht des Ob«.

Kommt es zu unbefristeten Streiks, würde die bislang gewahrte Einheit der Richtungsgewerkschaften wohl nicht bestehen bleiben. Gewerkschaftlichen Schätzungen zufolge beteiligten sich am 19. Januar insgesamt zwei Millionen, am 31. Januar dann 2,8 Millionen Menschen an Demonstrationen. Die Angaben des Innenministeriums liegen ungefähr halb so hoch. Die Beteiligung lässt sich wohl kaum noch steigern und auch nicht für längere Zeit in dieser Höhe halten. So dürfte bald die Frage drängend werden, ob die Rentenreform durch einen unbefristeten Streik noch verhindert werden kann.