Die Streikbereitschaft im ­öffentlichen Dienst ist groß

Fast alle Räder standen still

Der Arbeitskampf im öffentlichen Dienst hat erhebliche Ausmaße angenommen. Bundesweit war am Montag der Schienen-, Flug- und Schiffsverkehr weitestgehend lahmgelegt, nachdem Verdi zum Warnstreik aufgerufen hatte.

»Alle, wirklich alle Mitglieder, die wir heute zum Arbeitskampf aufgerufen haben, beteiligen sich an diesem Streik«, sagte der Vorsitzende der Gewerkschaft Verdi, Frank Werneke, am Montag in Potsdam. Verdi und die Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG) haben rund 130 000 Beschäftigte zum Streik aufgerufen und damit ihre Handlungsfähigkeit unter Beweis gestellt: Der Schienen-, Flug- und Schiffsverkehr kam am Montag in Deutschland weitgehend zum Erliegen.

Insgesamt beteiligten sich in den vergangenen Wochen laut Verdi rund 400 000 Beschäftigte an den Warnstreiks in verschiedenen Bereichen des öffentlichen Diensts. »Das ist die größte Warnstreikbeteiligung seit vielen Jahren und Jahrzehnten«, so Wer­neke. Seit Anfang des Jahres verzeichnet Verdi 70 000 neue Mitglieder. »Das ist der stärkste Mitgliederanstieg seit unserer Gründung vor mehr als 20 Jahren«, sagte Werneke.

Zwar dienten Streiks nicht der Gewinnung von Mitgliedern. Viele, die sich erstmals an einem Arbeitskampf beteiligten, würden dann aber eintreten. Die Beschäftigten seien es leid, »sich jeden Tag mit warmen Worten abspeisen zu lassen, während die Arbeitsbedingungen immer schlechter werden und viele Stellen unbesetzt sind«. Bei der dritten und entscheidenden Runde der Tarifverhandlungen im öffentlichen Dienst, die ebenfalls am Montag in Potsdam begann, fordert Verdi für die Beschäftigten eine Gehaltserhöhung um 10,5 Prozent noch in diesem Jahr, mindestens aber 500 Euro mehr pro Monat.

Seit Anfang des Jahres verzeichnet Verdi 70 000 neue Mitglieder.

Das ist eine nachvollziehbare Forderung, denn wegen der hohen Inflation sanken die Reallöhne dem Statistischen Bundesamt zufolge allein im vergangenen Jahr gegenüber 2021 um 3,1 Prozent. Zudem hielten sich die Gewerkschaften während der Covid-19-Pan­demie mit ihren Forderungen zurück.

Hingegen forderte die Bundesinnenministerin und Verhandlungsführerin des Bundes für die Tarifgespräche im öffentlichen Dienst, Nancy Faeser (SPD), dass die Gewerkschaften nicht länger auf ihren hohen Forderungen beharrten, sondern »vielleicht uns auch ein Stück entgegenkommen«. Bund und Kommunen hätten »ein gutes Angebot vorgelegt«. Dieses sieht eine Einmalzahlung in Höhe von 1 500 Euro im Mai und eine Gehaltserhöhung um drei Prozent ab Oktober vor. Weitere zwei Prozent und zudem eine Inflationsausgleichsprämie in Höhe von 1 000 Euro soll es außerdem bei einer Laufzeit von 27 Monaten im kommenden Jahr geben.

Die Oberbürgermeisterin von Gelsenkirchen und Verhandlungsführerin der kommunalen Arbeitgeber, Karin Welge (SPD), sprach sogar von einer »Radikalisierung« der Gewerkschaften und davon, dass das Streikrecht »inflationär ausgereizt« werde. »Dass die Streiks mittlerweile flächendeckend und in einer solchen Intensität erfolgen, kann ich nicht nachvollziehen«, sagte Welge. Bereits in den vergangenen Wochen hatten verschiedene Unternehmensvertreter wie der Hauptgeschäftsführer der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, Steffen Kampeter (CDU), mal mehr und mal weniger deutlich gefordert, das Streikrecht einzuschränken.

Die Oberbürgermeisterin von Gelsenkirchen und Verhandlungsführerin der kommunalen Arbeitgeber, Karin Welge (SPD), sprach von einer »Radikalisierung« der Gewerkschaften

Zur Verhältnismäßigkeit des bundesweiten Warnstreiks am Montag sagte der Vorsitzende der EVG, Martin Burkert, die Arbeitgeber und ihre Verbände sollten sich besser fragen, »ob es noch verhältnismäßig ist, wenn Vorstände das Vierzig-, Fünfzigfache oder mit Bonuszahlungen das Achtzig- und Einhundertfache von dem verdienen, was in der Dienstleistung verdient wird«. Demgegenüber sei der Warnstreik nicht nur »verhältnismäßig«, sondern auch »notwendig« gewesen. Die EVG fordert für die Beschäftigten eine Lohnerhöhung um zwölf Prozent, mindestens aber 650 Euro mehr pro Monat. Darüber verhandelt sie sowohl mit der Deutschen Bahn als auch mit etwa 50 weiteren kleineren Bahnbetreibern in den kommenden Wochen. Bislang liege jedoch kein »verhandlungsfähiges An­gebot« der Arbeitgeberseite vor, so Burkert.

Dass am Montag wegen des gemeinsamen Warnstreiks große Teile des öffentlichen Verkehrs hierzulande zum Stillstand kamen, können die Gewerkschaften durchaus als Erfolg verbuchen – genau wie die Tatsache, dass es in den Städten und auf den Autobahnen nicht zu den chaotischen Zuständen kam, die die Arbeitgeberverbände zuvor an die Wand gemalt hatten. Viele Menschen hatten sich wohl auf den Streik eingestellt.

Die vielfach geäußerte Behauptung, Deutschland steuere auf französische Verhältnisse zu, hat sich zunächst nicht bewahrheitet. Dort hatte es allerdings auch einige Wochen gedauert, bis die Gewerkschaften die Proteste verschärften und sich der Widerstand gegen die Rentenreform gesellschaftlich enorm verbreiterte – und die Verhältnisse in der Folge anfingen zu tanzen.