Wenn nichts mehr hilft, helfen Vitamine
Morgens in der Hausarztpraxis: Der gestresste Arzt trinkt einen vierfachen Espresso und sinniert über den Terminkalender. Mehr als 40 Patientinnen sind es heute. Wie viele werden nach ihrem Vitamin-D-Spiegel fragen?
Vitamine gibt es verwirrend viele: von A bis E und dann noch K, hinzu kommt die Unterteilung von B1 bis B12. Gemeinsam ist allen, dass sie irgendwie wichtig sind, aber man sie ständig durcheinanderbringt. Was wo drin und wofür was gut ist, kann sich niemand merken.
So wächst das Bedürfnis, die Dinge zu vereinfachen, was wiederum erklären könnte, warum jedes Jahrzehnt sein Vitamin hat: die Achtziger das Vitamin C mit Onkel Dittmeyer, der damit seine Fruchtsäfte vermarktete; dann kamen A und E dazu, später Biotin und nicht zu vergessen die Omega-3-Fettsäuren in Fischölen, umgangssprachlich auch als Vitamin F bekannt. Allen gemeinsam ist, dass ihre zusätzliche Einnahme in Tablettenform praktisch nichts bringt – zumindest denjenigen, die nicht wenigstens ab und zu ein bisschen Gemüse essen.
Die großangelegte »Vital-Studie« der Harvard Medical School kam zu dem Ergebnis, dass nur 2,4 Prozent der Bevölkerung einen sehr niedrigen Vitamin-D-Spiegel hätten.
Seit mehr als zehn Jahren ist Vitamin D besonders angesagt. Die Dauer der Vitaminmoden vergangener Dekaden lässt zwar vermuten, dass sein Zenit bald überschritten sein dürfte, doch noch ist es das beliebteste Vitamin – alle kennen es, niemand hat genug und alle wollen mehr davon.
Dem Vitamin werden alle möglichen Vorteile zugesprochen: Es verlängere das Leben, es boostere die geistigen Fähigkeiten, stärke Knochen, Muskeln, Herz und das Immunsystem – und gut gegen Covid-19 sei es auch. Für und gegen einfach alles hilft das Sonnenvitamin! Da kann man also nichts falsch machen. Her damit, denkt die mündige Patientin, und: Je mehr, desto besser. Das erweist sich spätestens dann als Irrtum, wenn man die für wöchentliche Einnahme zugelassenen Pillen täglich nimmt. Fälle von Überdosierung sind in der Fachpresse vielfach dokumentiert – inklusive Nierenschaden, einem Aufenthalt auf der Intensivstation und Dialysebehandlung.
Der Hausarzt hat die Erfahrung gemacht, dass der Vitaminmangel eines jener Leiden ist, die mit Mittelschichtseinkommen, gesundem Lebensstil und Burn-out zu korrelieren scheinen. Zinkmangel gehört in die gleiche Rubrik, ist aber nicht ganz so verbreitet.
Diagnostik und Behandlung gestalten sich glücklicherweise einfach. Ja, man kann fast sagen: Nichts ist einfacher! Die Grenzwerte des Normbereichs sind so eng gefasst, dass besonders am Ende des Winters wegen fehlenden Sonnenlichts fast alle sie unterschreiten. Die Pharmaindustrie freut es, die Labore verdienen gut.
Ob das alles nötig ist, ist äußerst fraglich. Die großangelegte »Vital-Studie« der Harvard Medical School kam zu dem Ergebnis, dass nur 2,4 Prozent der Bevölkerung einen sehr niedrigen Vitamin-D-Spiegel hätten. Die Macher der Studie sind der Ansicht, dass es keinen medizinischen Grund für eine Vitamin-D-Supplementierung in der allgemeinen Bevölkerung gebe. Der Nutzen einer Behandlung ist nur für sehr wenige Patientengruppen belegt, zum Beispiel Bewohner von Pflegeheimen. Für fast alle anderen ist die Behandlung zahlreichen Studien zufolge nutzlos.
In der Schweiz wurden im Jahr 2019 insgesamt 90 Millionen Franken dafür ausgegeben, Vitamin-D-Werte im Blut zu bestimmen. 2018 machte ein Fünftel der Bevölkerung einen solchen Test, besonders stark stieg die Nachfrage bei 30- bis 40jährigen. Könnte dahinter das Bedürfnis nach Selbstoptimierung stehen, von Menschen, die beruflich stark unter Druck stehen? Bangen möglicherweise Millionen Berufstätige um ihre Leistungsfähigkeit? Haben die Leute Angst davor, krank zu werden, weil sie das Gefühl haben, sich das eigentlich nicht leisten zu können? Sind sie vielleicht auf der Suche nach einer einfachen Lösung für ein allgemeines Gefühl der Erschöpfung und Überforderung und hoffen, mit ein paar Vitaminen werde das alles in Ordnung kommen? Alles Spekulation!
Bleiben wir besser bei der hausärztlichen Routine: Blut abnehmen, Mangel feststellen, den, wie gesagt, sowieso fast alle haben, und Vitamin D verordnen – fertig, und alle sind zufrieden. Der Hausarzt hat Zeit gespart, die Patientin kann Pillen nehmen, mit ein wenig Glück vom Placeboeffekt profitieren und die Zeit bis zur nächsten Krankschreibung überbrücken, wenn sie sich die überhaupt erlauben kann. Für eine eventuell nötige Psychotherapie ist keine Zeit und Plätze dafür gibt es ohnehin nicht.
Die Alternative wären Gespräche über Müdigkeit, Erschöpfung und Depression, über Leistungsdruck, Existenzangst, Konflikte mit Freunden, Verwandten und Kollegen, Schulden, schlimme Wohnverhältnisse und gescheiterte Beziehungen. Dazu ist der Hausarzt selbst viel zu erschöpft und müde und das Wartezimmer ist immer voll mit anderen Müden und Erschöpften, die auch ihren Vitamin-D-Wert wissen wollen, oder irgendeinen anderen Blutwert. Die Nächste, bitte.