Die Einnahmen der Krankenkassen leiden unter sinkenden Löhnen

Kostenfaktor Gesundheit

Die Gesundheitsbranche boomt. Doch ihre Finanzierung belastet andere Teile der Wirtschaft. Dieser Konflikt tritt in Deutschland immer offener zutage.
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Die Gesundheitsversorgung im Kapitalismus unterliegt einem grundsätzlichen Widerspruch. Einerseits freut man sich in Deutschland über die hohe Wertschöpfung der Gesundheitswirtschaft samt Wachstumsraten von jährlich 3,8 Prozent in den vergangenen zehn Jahren. Andererseits beklagt man die steigenden Kosten von insgesamt 465,7 Milliarden Euro im vergangenen Jahr. Beides sind aber die zwei Seiten derselben Medaille.

Das Gesundheitssystem ist nicht einfach eine Branche wie jede andere. Der Löwenanteil seiner Leistungen wird über das Umlagesystem der Krankenversicherungen finanziert, dem in Deutschland 73,3 Millionen gesetzlich und 8,8 Millionen privat Versicherte an­gehören. Die gesetzlichen Krankenversicherungen erheben auf die Löhne der Versicherten einen Beitragssatz. Zahlungen bis zu einer Höhe von 14,6 Prozent des Bruttolohns werden von Angestellten und Arbeitgebern zu gleichen Teilen bezahlt. Darüber hinaus erho­bene Beitragszahlungen müssen Arbeitnehmer als sogenannten Zusatzbetrag allein bezahlen. Diesen haben die meisten gesetzlichen Krankenkassen aufgrund der steigenden Kosten zum Jahreswechsel erneut erhöht; im Schnitt um rund 0,2 Prozentpunkte auf 1,5 Prozent. Einige gesetzlich Versicherte müssen bis zu 20 Prozent ihres Gehalts an Kranken- und Pflegeversicherung abführen.

Bis zu Beginn der siebziger Jahre waren die Kassenbeiträge aufgrund hoher Beschäftigungsstände und Profitraten kein Problem – 1970 betrug der Beitragssatz zur Krankenversicherung 8,2 Prozent. Dann aber kam es zu einer tiefgreifenden Wirtschaftskrise, die mit Unterbrechungen und in wechselnden Erscheinungsformen bis heute anhält. Die Arbeitslosigkeit stieg und prekäre Arbeitsverhältnisse nahmen zu, insbesondere durch die Arbeitsmarktreformen kurz nach der Jahrtausendwende: Neue Beschäftigungsformen wie Minijobs wurden geschaffen, bei denen ebenso wie bei Scheinselbständigen keine Krankenkassenbeiträge vom Gehalt abgeführt werden. Andere Formen, etwa Leiharbeit, sind schlecht bezahlt. Beides ließ die Kasseneinkünfte sinken. Zugleich gibt es, wie überall, auch im Gesundheitssystem ständig technologische Fortschritte, die bezahlt sein wollen. All das führte zu wachsenden Finanzierungs­problemen, weswegen der Staat immer mehr Zuschüsse an die gesetzlichen Krankenkassen zahlt – im Jahr 2021 waren das 28,5 Mil­liarden Euro.

Die jeweiligen Bundesregierungen reagierten mit wettbewerbs­orientierten Strukturreformen. Seit Anfang der Neunziger dominiert betriebswirtschaftliches Denken den Gesundheitssektor. Unter anderem werden in Krankenhäusern nicht mehr die tatsächlich anfallenden Behandlungskosten erstattet, sondern je nach Diagnose einen Pauschalbetrag, was die Kliniken dazu bringen soll, die Kosten zu senken. In der Folge spezialisieren sich Arztpraxen und Kliniken immer mehr auf gut honorierte Eingriffe mit möglichst geringen Kosten. Gleichzeitig werden unrentable Abteilungen geschlossen, beispielsweise Kinderstationen, in denen schlecht kal­kulierbare Not- und Akutfälle überwiegen. Mittlerweile gibt es ganze Landkreise, die über keine Geburtsklinik mehr verfügen. Dagegen werden in Deutschland doppelt so viele Hüftoperationen vorgenommen wie in vergleichbaren Industrieländern.

Niemand kann sich unter solchen Bedingungen noch darauf verlassen, dass medizinische und nicht ökonomische Gründe die Behandlung bestimmen.Ein Gesundheitssystem ist für eine humane Gesellschaft unverzichtbar, zumal im Fall von Pandemien und anderen Katastrophen. Auch das Kapital hat ein Interesse daran, dass seine Angestellten gesundheitlich versorgt und nicht von Krankheit oder Unfällen in den Ruin getrieben werden. Aber der Kapitalismus verträgt sich nicht mit Daseinsvorsorge, denn in ihm müssen alle Kosten möglichst weit reduziert werden. Das gilt auch für Krankenhäuser und Arztpraxen, wenn man sie zwingt, wie Unternehmen zu wirtschaften. Prinzipiell aber gilt: Stagnierende Löhne und prekäre Beschäftigungsverhältnisse lassen die Einnahmen der Kassen schrumpfen. Daran kann keine Gesundheitsreform etwas ändern.