Markus Tervooren und Arnold Vinkeles, Mitglieder der Berliner Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten, über den 75. Jahrestag der Gründung ihrer Organisation:

»Der russische Angriffskrieg ist für uns eine Zerreiß­probe«

In der 1948 gegründeten Berliner VVN organisierten sich zunächst verfolgte Juden, KPD-und SPD-Mitglieder sowie Widerstandskämpfer:innen. Seit den siebziger Jahre sind dort auch jüngere Antifaschist:innen aktiv. Geschäftsführer Tervoren und Vorstandsmitglied Vinkeles sprechen über Versuche, den Antifaschismus als "linksextremistisch" einzustufen, und über kontroverse interne Debatten infolge des Ukraine-Kriegs.
Interview Von

An welche Ereignisse denken Sie anlässlich des 75. Jubiläums der Berliner VVN-BdA?

MT: In der Rückschau denke ich zuerst an die Gründung – ich habe einige Leute kennengelernt, die damals dabei waren. Und ich denke an die wechselhafte Geschichte unseres Verbands, denn er wurde als letzter der VVN-Verbände gegründet, was daran lag, dass sich die Alliierten erst untereinander einigen mussten. Die Berliner VVN war immer ein Laden, in dem es krachte, ich würde behaupten, in den ersten Jahren sehr konstruktiv: Man hatte ein gemeinsames antifaschistisches Grundverständnis, wurde dann aber hineingezogen in den Kalten Krieg.

»Die DDR-Führung hatte die ostdeutschen VVN-Verbände aufgelöst, da durch die Enteignung der Großkonzerne die Wurzel des Nazismus zerschlagen worden sei.« Markus Tervooren

Können Sie das erläutern?

MT: Die DDR-Führung hatte die ostdeutschen VVN-Verbände 1953 aufgelöst, weil sie der Meinung war, die Arbeit der VVN sei nicht mehr nötig: Durch die Enteignung der Großkonzerne sei die Wurzel des Nazismus zerschlagen worden. Die VVN wurde abgelöst durch das eng mit der SED verbundene Komitee der Antifaschistischen Widerstandskämpfer. Damit endete auch die Arbeit der VVN im Parlament, die bis dahin eine Fraktion im Staatsrat der DDR gebil­det hatte.

Was erscheint Ihnen in der Rückschau noch besonders wichtig?

MT: Dass die VVN in Westberlin eigentlich immer kurz vor einem Verbot stand, insbesondere in der Folgezeit des Verbots der KPD 1956. Sie hat das aber überstanden. Die SPD und die Gewerkschaften hatten 1948 Unvereinbarkeitsbeschlüsse zur VVN beschlossen, die formal erst 2010 aufgehoben wurden. Woran ich auch denke, ist, dass die VVN immer eine Antikriegsorganisation war: Sie hat sich gegen die Aufrüstung und Wiederbewaffnung der Bundesrepublik engagiert. Die Bestrafung der NS-Täter:innen war ebenfalls eine zentrale Forderung der VVN.

AV: Die VVN-BdA hat seit ihrer Gründung immer auch versucht, überparteilich und religionsneutral zu sein – so auch der Berliner Verband.

Ende 2019 hat das Berliner Finanzamt dem Bundesverband den Status der Gemeinnützigkeit aberkannt, fünfstellige Steuernachzahlungen für die Jahre 2016 und 2017 verlangt und die Verlängerung des gemeinnützigen Status des Berliner Landesverbands ausgesetzt. In seiner Begründung verwies es auf eine wiederholte Nennung des Vereins als »linksextremistisch beeinflusste« Organisation in bayerischen Verfassungsschutzberichten. Aufgrund einer solchen Erwähnung erfülle der Verein der gel­tenden Abgabenordnung zufolge die Voraussetzungen für die Gemeinnützigkeit nicht mehr. Eineinhalb Jahre später revidierte das Finanzamt seine Entscheidung. Was war in der Zwischenzeit passiert?

MT: Aufgrund der rechtlich vorgesehenen Beweislastumkehr konnten wir praktisch nichts anderes machen, als in den Augen des Finanzamts die Behauptung des Landesverfassungsschutzes zu erschüttern, wir würden gegen die Verfassung arbeiten – was ein nahezu unmögliches Unterfangen war. Wir haben dann eine Kampagne organisiert. Der SPD, insbesondere dem damaligen Bundesfinanzminister Olaf Scholz und dem Berliner Finanzsenator Matthias Kollatz, war der gesamte Vorgang wohl recht peinlich, es sind ja auch viele SPD-Mitglieder bei der VVN-BdA organi­siert. Schließlich haben sich die beim Finanzamt Verantwortlichen auf ein persönliches Gespräch eingelassen, bei dem wir sie offenbar davon überzeugen konnten, dass wir uns nicht als Feinde, sondern als Verteidiger der Verfassung fühlen, indem wir gegen rechte und faschistische Bewegungen kämpfen. Das Ganze ist aber nach wie vor in der Schwebe, die Verfassungsschutzämter könnten in Zukunft schlicht anders begründete Vorwürfe der Verfassungsfeindlichkeit vorbringen.

AV: Durch die Kampagne sind viele aus Solidarität eingetreten, wir konnten unsere Mitgliederzahl auf derzeit etwa 1 400 verdoppeln. Auch der Vorstand hat sich dadurch verjüngt.

Beeinflusst der Krieg Russlands in der Ukraine Ihre Arbeit?

AV: Nach dessen Ausbruch hat die VVN-BdA in einer Erklärung den Angriffskrieg verurteilt: Wir wollen, dass die Russen sich aus der Ukraine zurückziehen und die Waffen schweigen. Die Ukraine ist ein unabhängiger Staat und das sollte man respektieren. Traditionsgemäß sind wir eine Friedensorganisation. Was uns daher im Konflikt fehlt, ist der Wille, den Krieg auf der di­plomatischen Ebene zu beenden. Die verbreitete Position, diese Möglichkeit gebe es nicht mehr, teilen wir explizit nicht.

MT: Bei uns ist es nicht anders als in der gesamten Linken. Alle Positionen, die es dort gibt, sind auch bei uns vertreten. Wir streiten uns heftig darüber, das ist durchaus eine Zerreißprobe. Viele, die aus der westdeutschen Friedensbewegung kommen, vertreten eine ganz andere Position als jüngere Mitglieder, etwa bei der Bewertung der Nato. Das Bit­tere für mich ist, vereinfacht gesagt, dass in der Ukraine die Enkel der Opfer des deutschen Faschismus aufeinander schießen. Traditionell haben wir ande­re Verbindungen zur ehemaligen Sowjetunion, weil die für einige ein halbwegs sicheres Exil bei der Flucht vor den deutschen Fa­schist:innen war. Es existiert die Gefahr, Russland mit der Sowjetunion zu verwechseln. Ich würde mir wünschen, es gäbe mehr Zeit, die Konflikte sorgfältiger zu besprechen. Worin wir uns mehr­heitlich einig sind, ist die Ablehnung der Beteiligung Deutschlands an diesem Krieg, was auch die Lieferung von schweren Waffen an die Ukraine angeht.

Können Sie die Konflikte noch an einem praktischen Beispiel verdeutlichen?

MT: Da wäre der Feiertag am 8. Mai zu nennen: Den 8. Mai als Tag der Befreiung vom Faschismus zu feiern, ist ja von uns in der deutschen Öffentlichkeit mühsam erkämpft worden. Ich befürchte, dass diese Position am kommenden Feiertag geschwächt wird.

Die vor einiger Zeit verstorbene jüdische Holocaust-Überlebende und Ehrenvorsitzende des VVN-BdA, Esther Bejarano, wurde in dem antizionistischen Dokumentarfilm »Zeit der Verleumder« mit den Worten zitiert: »Was Adolf Hitler und die Nationalsozialisten dem jüdischen Volk angetan haben – Vernichtung von sechs Millionen Menschen, Holocaust – darf nicht die Rechtfertigung Israels für die Diskriminierung des palästinensischen Volkes sein.« Unterlaufen prominente Äußerungen wie diese nicht das Anliegen des Verbands, Antisemitismus zu bekämpfen?

MT: Was Esther Bejarano angeht, spricht eine große Enttäuschung aus ihr, die ja 1945 mit großer Hoffnung nach Palästina und Israel auswanderte und als Linke mit der dortigen Politik unzufrieden war. Dieser Hintergrund darf bei ihr nicht vergessen werden. Unabhängig davon spielt eine antizionistische Politik in die VVN-BdA hinein, die aus der DDR kam und von vielen in den Ost- und Westverbänden unkritisch übernommen wurde. Die antizionistische Position war nie eine und ist auch heute keine Position der VVN-BdA als Organisation. Es gibt Leute, die sie teilen, und Leute, die sie ablehnen. Die damalige VVN hatte die Gründung des Staates Israels begrüßt. Ich selber kämpfe für das Existenzrecht des Staates Israel als Ort der Überlebenden und Schutzraum für alle Juden weltweit, den es geben muss und der sich verteidigen soll. Auf der anderen Seite gibt es schwere Auseinandersetzungen zwischen Israel und den Palästinenser:innen, zu denen man nicht immer den Mund halten muss. Nicht erst mit der neuen Regierung gibt es in Israel einen starken Rechtsruck. In diesem Spannungsfeld bewegen sich die Positionen unserer Mitglieder und unsere Debatten.

AV: Vor kurzem hatten wir eine Veranstaltung mit zugeschalteten Personen aus Israel und den palästinensischen Gebieten von der Organisation Parents Circle – Families Forum, einem Zusammenschluss von israelischen und palästinensischen Familien, die durch Terror und Terrorbekämpfung Angehörige verloren haben und sich für die Versöhnung einsetzen. Als VVN-BdA unterstützen wir jene Kräfte vor Ort, die sich um Frieden bemühen.

 

Markus Tervooren, ehemaliger Hausbesetzer und seit Ende der achtziger Jahre antifaschistisch aktiv, unter anderem in der Antifaschistischen Initiative Moabit, arbeitet seit knapp 15 Jahren als Geschäftsführer der Berliner VVN-BdA. Der Eventmanager Arnold Vinkeles ist seit vergangenem Jahr Vorstandsmitglied bei der Berliner VVN-BdA.

Ein knappes Jahr nach der Gründung des Bundesverbands der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) im Februar 1947 wurde der Berliner Landesverband am 16./17. Januar 1948 in den Räumen der Jüdischen Gemeinde zu Berlin gegründet. Entstanden aus den von den Alliierten initiierten Ausschüssen für die Opfer des Faschismus, organisierten sich in der Berliner VVN verfolgte Juden, KPD- und SPD-Mitglieder sowie Widerstandskämpfer:innen. Ab den siebziger Jahren öffnete sich der Bundesverband und mit einigen Jahren Verzögerung auch der Berliner Landesverband jüngeren Mitgliedern, die weder vom NS-Regime verfolgt waren noch Widerstand dagegen geleistet hatten. Das zog die Veränderung des Namens in seine bis heute gültige Form nach sich: Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten (VVN-BdA).