Neue Vorwürfe wegen häuslicher Gewalt
Die Nachfolge des alternden Anführers gestaltet sich schwieriger als geplant. Es war geplant, dass der 71jährige Politiker Jean-Luc Mélenchon nach seiner dritten Präsidentschaftskandidatur in Kürze von der Spitze der linkspopulistischen Wahlplattform La France insoumise (LFI, Das unbeugsame Frankreich) zurücktritt. Einen Rückzug aus der Politik hätte das noch nicht bedeutet. Vielmehr sollte Mélenchon die Leitung einer zu gründenden Stiftung übernehmen und dadurch zumindest intellektuell präsent bleiben, um die zwischen linkssozialdemokratischen, ökologischen und linksnationalistischen Elementen changierende Wahlbewegung weiterhin zu prägen. Eine jüngere Generation sollte jedoch die Führung übernehmen.
Eines der profiliertesten Mitglieder der Parlamentsfraktion, der 32jährige Abgeordnete und vormalige Kundenberater beim Energieversorger Électricité de France (EDF), Adrien Quatennens, steckt nun allerdings in ernsten Schwierigkeiten; ihn hatte Mélenchon als potentiellen Nachfolger aufgebaut. Im September wurde bekannt, er stecke in einem konfliktreichen Scheidungsprozess und seine Ehefrau, Céline Quatennens, erhebe Vorwürfe gegen ihn wegen häuslicher Gewalt. Adrien Quatennens räumte daraufhin öffentlich ein, er habe sie »vor einem Jahr« geohrfeigt. Das sorgte für Entrüstung. Der Abgeordnete zog sich daraufhin vorübergehend von seinen Ämtern, in der Fraktion wie innerparteilich, zurück und kündigte eine Denkpause an.
Mittlerweile wurde bekannt, dass Céline Quatennens Anzeige wegen häuslicher Gewalt gegen ihren Gatten erstattet hat. Am 13.Dezember soll er in einem vereinfachten Verfahren – in dem eine vollumfängliche Anerkennung der Schuld ein mit der Staatsanwaltschaft ausgehandeltes verringertes Strafmaß garantiert – sein Urteil erhalten. In Erwartung eines glimpflichen Ausgangs dieses Verfahrens bereitete sich die Parlamentsfraktion von LFI auf die politische Rückkehr Adrien Quatennens’ vor. Hinter den Kulissen wurde bereits über deren genauere Umstände diskutiert.
Doch vergangene Woche sagte Céline Quatennens in der Öffentlichkeit, ihr Mann sei seit Jahren körperlich und psychisch gewalttätig gewesen; dieser dementierte. Nähere Einzelheiten sind bislang nicht bekannt. Die für ihre feministischen Positionen bekannte Abgeordnete Clémentine Autain (LFI) sagte daraufhin am Sonntag: »Ich reiche Céline Quatennens die Hand«; politische Freundschaften dürften auf keinen Fall zu einer Verwässerung feministischer Prinzipien führen.
Vor gut zwei Monaten hatte Mélenchon erklärt, mit »Céline und Adrien Quatennens« gleichermaßen befreundet zu sein, um sich dann aber ausdrücklich auf eine Ehrenrettung des Letztgenannten zu konzentrieren. Viele Abgeordnete von LFI sind darüber ungehalten. Die bis dahin nach außen gewahrte Einheit von LFI könnte nun möglicherweise zerbrechen.
Zudem sind Sozialdemokraten und Grüne auf Abstand zu LFI gegangen. Mit der Partei, die bei den vergangenen Wahlen deutlich besser abschnitt als sie, sind sie seit Mai im Wahlbündnis Nupes (Neue soziale und ökologische Volksunion) verbunden; die Affäre Quatennens liefert ihnen einen willkommenen Anlass, um sich von LFI zu lösen.
In der französischen Nationalversammlung hat die Regierung seit den Parlamentswahlen im Juni keine absolute Mehrheit mehr; hier versucht LFI, sich als entschlossenste Oppositionskraft zu profilieren. Der im Parlament mit 89 Abgeordneten ebenfalls erstarkte extrem rechte Rassemblement national (RN) machte dies der Partei zunächst auch relativ leicht, indem er sich seit dem Frühsommer eher als »verantwortungsvolle«, ja »konstruktive Opposition« zu inszenieren versuchte und mehrfach höhnte, LFI-Abgeordnete wollten »Platzbesetzer im Parlament spielen«.
Daraufhin wies LFI empört darauf hin, dass der RN im Parlament mehrfach gemeinsame Sache mit den Wirtschaftsliberalen unter Emmanuel Macron und den Konservativen von Les Républicains (LR) gemacht hatte. Anfang August hatten die drei Fraktionen gegen die LFI-Forderung nach einer Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohns und stattdessen für steuerfinanzierte statt vom Kapital aufzubringende Lohnersatzprämien gestimmt.
Doch dann drohte die Regierung zur Durchsetzung ihres Haushaltsgesetzes 2023, das vorsieht, bis 2027 die Neuverschuldungsgrenze von drei Prozent der Wirtschaftsleistung wieder einzuhalten, mehrfach an, den Verfassungsartikel 49 Absatz 3 einzusetzen, mit dem eine parlamentarische Abstimmung umgangen werden kann. LFI reagierte darauf mit der Planung von Misstrauensanträgen gegen die Regierung. Am 31.Oktober kündigte Marine Le Pen überraschend an, einem solchen nun zuzustimmen, was es den Rechtsextremen erlaubte, sich wieder verstärkt um ein oppositionelles Image zu bemühen.
Berichten unter anderem in der Wochenzeitung Le Canard enchaîné zufolge hatte die LFI-Führung an ihrem Misstrauensantrag herumgefeilt, um ihn so zu entschärfen, dass auch Rechtsextreme ihm zustimmen konnten; das sollte dem Misstrauensvotum zumindest rechnerisch eine Mehrheit verschaffen, was allerdings nicht gelang, da die Konservativen, die Macrons Entwurf als zu wenig streichungsorientiert kritisiert hatten, sich der Regierung annäherten. Daraufhin waren es eher rechte Sozialdemokraten um Macrons Amtsvorgänger François Hollande, die diesen Profilierungsversuch von LFI kritisierten, wobei sie sich auf antifaschistische Prinzipien beriefen, namentlich die Verweigerung jeder Zusammenarbeit mit dem RN, um auf Distanz zu den Linkspopulisten gehen zu können.
Rund eine Woche später präsentierte LFI einen neuen Misstrauensantrag, versehen mit einer expliziten Distanzierung vom RN. Auch dieses Mal stimmte der RN zu, nun allerdings klar taktisch motiviert. Ende der ersten Novemberwoche attackierte der RN-Abgeordnete Grégoire de Fournas den LFI-Parlamentarier Carlos Martens Bilongo rassistisch (Jungle World 45/2022); eine parlamentarische Annäherung von LFI und RN ist damit erst einmal vom Tisch.