Selbsternannte Experten verbreiten im Internet Halbwissen über psychische Störungen

Umzingelt von Empathielosen

Narzissmus ist zu einer Modediagnose geworden. Laien auf Instagram und Life Coaches verbreiten Theorien über angeblich weitverbreitete narzisstische Persönlichkeitsstörungen, die mit psychologischer Wissenschaft oft nur wenig zu tun haben.

Narzissten haben einen überhöhten Geltungsdrang, sind fest davon überzeugt, herausragende Qualitäten zu besitzen, und dabei überheblich und empathielos. Diese Charakterisierung ist vielen Menschen geläufig. Komplizierter wird es jedoch, wenn der Begriff im Sinne einer psychischen Störung verwendet wird.

Die »Internationale Statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme« (ICD) der Weltgesundheitsorganisation (WHO) definiert Zehntausende Krankheiten und Diagnosen, damit Mediziner weltweit mit einheitlichen Kriterien und Bezeichnungen arbeiten können. Auch Psychiaterinnen und Psychotherapeuten orientieren sich bei der Diagnose von psychischen Erkrankungen an diesen Definitionen. Die seit dem 1. Januar gültige elfte Fassung des Klassifikationssystems weist eine wichtige Neuerung auf: Die narzisstische Persönlichkeitsstörung ist nicht mehr enthalten. Statt wie bisher verschiedene Persönlichkeitsstörungen – neben der narzisstischen beispielsweise die paranoide oder die dissoziale – einzeln aufzuführen, gibt es nur noch eine Diagnose: »Persönlichkeitsstörung«. Diese könne mit unterschiedlichen Charakteristiken und Ausprägungen vorkommen.

Da sich Patienten und Patientinnen trotz gleicher Diagnose mitunter stark voneinander unterscheiden und es zwischen den verschiedenen Formen von Persönlichkeitsstörungen Ähnlichkeiten und Überlappungen gibt, begrüßen nicht wenige Psychiater und Psychologinnen den Abschied vom bisherigen Schubladensystem. Dieses wird allerdings unter anderem vom einflussreichen diagnostischen Leitfaden der Amerikanischen Psychologischen Gesellschaft (APA) weiter verwendet. Ein weiteres Problem ist, dass der Übergang von einer nicht gestörten zu einer gestörten Persönlichkeit fließend ist und eine Grenze zwischen beiden nicht klar definiert werden kann. Im ICD-11 stehen deshalb statt wie bisher Charaktereigenschaften nun Probleme mit dem eigenen Persönlichkeitsbild und dysfunktionale soziale Beziehungen im Zentrum der Diagnose.

Den Narzissten als diagnostische Kategorie gibt es also zumindest bei der WHO nicht mehr. Doch dürfte das nichts am weitverbreiteten Interesse an diesem Begriff ändern. Denn »Narzissmus« ist längst zu einer inflationär gebrauchten Laiendiagnose geworden, sowohl im persönlichen Umfeld als auch für Personen der Zeitgeschichte. Donald Trump sei narzisstisch, Kim Kardashian ebenfalls, und bei dem rechtsextremen Massenmörder Anders Breivik gilt vielen seine von Gerichtsmedizinern diagnostizierte narzisstische Störung als Schlüssel, um seine Tat zu erklären. Auf Google wird der Begriff seit Jahren immer häufiger gesucht. In sozialen Medien wie Instagram grassiert die Furcht vor Narzissten, die ihre Mitmenschen und Partner in »toxischen Beziehungen« angeblich ebenso gewissenlos wie meisterhaft manipulieren – sich aber, so liest man, anhand ganz einfacher Kriterien klar erkennen lassen.

Die auf die Erforschung von Persönlichkeitsstörungen spezialisierte US-amerikanische Psychotherapeutin Elinor Greenberg kritisierte 2021 auf der Website der Zeitschrift Psychology Today die Zunahme von Laiendiagnosen der narzisstischen Persönlichkeitsstörung: »Menschen ohne psychiatrische Ausbildung stufen alle möglichen missbräuchlichen Ex-Partner, Freunde und Eltern als Narzissten ein, ohne wirklich eine klare Vorstellung davon zu haben, was diese Diagnose eigentlich bedeutet.« Gerade in den sozialen Medien kursierten zahlreiche Mythen über »Narzissmus«, die Menschen mit einer tatsächlichen narzisstischen Persönlichkeitsstörung nicht treffend beschrieben. Die Beschreibungen seien oft so übertrieben, als wären Narzissten entweder Comic-Bösewichte oder Superhelden.

Manche der auf Instagram verbreiteten Kriterien für die Laiendiagnose sind so schwammig, dass sie auf nahezu jeden Menschen passen. So heißt es zum Beispiel, einen Narzissten erkenne man daran, dass er es nicht möge, angelogen zu werden. Selbst wenn Großeltern den Besuch ihres Enkelkindes erbitten, ist das nicht unverdächtig: »Meldest du dich auch mal wieder!? Ich bin so alleine« – das seien »Sätze einer narzisstischen Oma oder Opa, die man oft hört«, heißt es auf dem Instagram-Profil »Narzissmus verstehen«. Bisweilen sind die Lehrsätze dieser Laienpsychologen auch widersprüchlich: Narzissten, so steht auf Instagram-Text­tafeln geschrieben, machten aus jeder »Mücke einen Elefanten«. Gleichzeitig liest man Warnungen davor, dass eine Person anderen den Vorwurf mache, aus einer Mücke einen Elefanten zu machen – dann habe man es angeblich ebenfalls mit einem Narzissten zu tun, der »Gaslighting« betreibe – also Menschen manipuliere, indem er ihre Erfahrungen als bloße Einbildung abwerte.

Die US-amerikanische Essayistin Kristin Dombek hat sich schon 2016 in ihrem Buch »Die Selbstsucht der anderen« mit dem Hype um den Begriff Narzissmusauseinandergesetzt. Sie beschreibt darin ein »Narzissmusdrehbuch«: Ein einfaches Skript, das sich problemlos auf verschiedenste missliebige Personen anwenden lässt – von der Chefin bis zum Ex-Partner, aber eben auch auf die Ungeheuer der Zeitgeschichte wie Breivik. Das »Narzissmusdrehbuch« erlaube uns, »perplex und entrüstet« zu sein »im Angesicht von jedem Bad Boyfriend, (…) Nazis, den Millennials und der Welt«, schreibt Dombek.

Dabei gebe es eine Gemeinsamkeit zwischen dem »Narzissmusdrehbuch« und einem auch für zahlreiche psychische Diagnosen wichtigen psychischen Abwehrmechanismus: »Splitting« oder »Spaltung«. Das Objekt, in diesem Fall die als bedrohlich wahrgenommenen vermeintlichen oder echten Narzissten, wird dabei zur Projektionsfläche für alles erdenkliche Schlechte. »Die Schwachen, Mitfühlenden werden die Opfer der Gefühlskalten, Teuflischen«, schreibt Dombek in Bezug auf Menschen, die überall Narzissten ­wittern. Doch: »Es ist nicht so, dass ein Narzisst einfach nur ein schlechter Mensch ist: Er ist vielmehr die Karikatur dessen, was wir unter einem schlechten Menschen verstehen, ein Anschauungsobjekt in Sachen Schlechtigkeit.«

Dieser Projektion wird bisweilen bis zur Dämonisierung gefrönt. Ein Instagram-Profil orakelt: »Narzissmus ist und bleibt gefährlich und ist nicht heilbar. Auch wenn wir uns das Gegenteil wünschen, müssen wir der Wahrheit ins Auge blicken.« Wie auch bei anderen Persönlichkeitsstörungen gilt die The­rapie von Menschen mit narzisstischer Persönlichkeitsstörung in der Tat als herausfordernd – unmöglich ist sie allerdings nicht.

Einfache Drehbücher mit klaren Feindbildern und Rollenzuschreibungen mögen zwar für die Psychotherapie untauglich sein. Das gilt allerdings nicht für Reklame und das Geschäft mit psychischer Beratung: Sogenannte Life Coaches, spirituelle Heiler und sogar Anwälte haben sich dem Kampf gegen den Narzissmus verschrieben. »Gemeinsam verbannen wir toxische Personen aus ihrem Leben«, verspricht zum Beispiel Rechtsanwalt Kai Lange auf seiner Website anwalt-narzissmus.de, wo er rechtliche Hilfe für Opfer »psychischer Gewalt« anbietet.

Meistens sind es allerdings Coaches, nicht selten mit esoterisch anmutendem Auftreten, die in oft kostenpflichtigen Seminaren »narzisstische Mutterwunden« und Ähnliches zu heilen versprechen. Ein typisches Beispiel ist narz-mich-nicht.de von Henning Glasmacher und Regina Schrott aus Köln. Glasmacher ist ein ehemaliger Unternehmensberater und arbeitet als KfZ-Sachverständiger. Er ist für die Erstgespräche zuständig, eine Stunde bei ihm kostet 80 Euro. Regina Schrott verlangt sogar 140 Euro pro Stunde. Auch sie gibt in ihren Qualifikationen kein medizinisches oder psychologisches Studium an. Dafür glänzt sie mit einem Zertifikat des International Network of Esoteric Healing.

Michelle Hildebrandt, Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie, hat sich für ihr Buch »Die Patientenfänger« mit medizinischen und psychiatrischen Modediagnosen befasst. Dass beim derzeitigen Narzissmus-Trend auch esoterische Coaches mitmischen, wundert sie nicht: »Die sogenannte Alternativmedizin ist ein Treiber hinter vielen Modediagnosen«, sagte sie der Jungle World. Besonders problematisch sei dabei, dass sich diese Angebote oft an Menschen richten, die in einer missbräuchlichen Beziehung sind oder waren und seriöse therapeutische Hilfe bräuchten: »Dann kriegt dieser Mensch nicht die notwendige Behandlung und gerät schlimmstenfalls in Abhängigkeit von solchen Pseudotherapeuten«, sagt Hildebrandt. Ihrer Ansicht nach profitieren diese unseriösen Angebote davon, wie schwierig und zeitaufwendig es sei, einen richtigen Therapieplatz zu finden.

Für Menschen, die sich stets von unheilbar bösartigen Narzissten umzingelt wähnen, hat die Autorin Kristin Dombek zum Schluss ihres Essays einen eigenen Begriff erdacht: die Narziphobie, »ein tiefgreifendes Muster von Paranoia (…), Splitting (…) und Schwarzmalerei«. Die Popularität psychiatrischer Krankheitsbilder lässt sich mit dieser ironisch gemeinten Diagnose freilich nicht erklären. Dafür kann sie zeitgenössischen Irrsinn in Worte fassen: Eines der nur halb ernst gemeinten Diagnosekriterien für »Narziphobie« lautet: Die Person neigt dazu, »sehr viel Zeit mit Online-›Recherchen‹ zu verbringen und nach Diagnosen für Partner/Partnerin, ­Familienmitglieder und manchmal auch völlig fremde Menschen zu ­suchen«.