Wer Andrij Melnyks Geschichtsrevisionismus kritisiert, sollte zur Stauffenberg-Verehrung nicht schweigen

Fragwürdiges Leitbild

Was kümmert mich der Dax Von

Es gibt gute Gründe, ­Andrij Melnyk zu kritisieren und seine Abberufung vom Posten des ukrainischen Botschafters in Deutschland gutzuheißen. Es gibt aber auch gute Gründe, daran zu zweifeln, dass wirklich die geschichtsrevisionistischen Aussagen Melnyks, der mehrfach den antipolnischen Terroristen, antisemitischen Massenmörder und Nazi-Kollaborateur Stepan Bandera in Schutz nahm, ausschlaggebend für die in Deutschland weitverbreitete Abneigung gegen ihn waren. Klarheit in dieser Frage wird schon bald das Ausmaß des Widerspruchs gegen die Ehrung anderer Nazi-Kollaborateure verschaffen, mit denen verglichen Bandera unbedeutend war.

»Die Bevölkerung ist ein unglaublicher Pöbel, sehr viele Juden und sehr viel Mischvolk. Ein Volk, welches sich nur unter der Knute wohlfühlt«, schilderte Claus Schenk Graf von Stauffenberg 1939 seine ersten Eindrücke in Polen. Stauffenberg war kein Nazi, ihm und den anderen aristokratischen Offizieren, die am 20. Juli 1944 versuchten, gegen Hitler zu putschen, waren »die Braunen« zu prollig, sie bevorzugten eine monarchisch-korporatistische Ordnung. Generaloberst Ludwig Beck, der ihr Staatsoberhaupt hätte werden sollen, sprach sich aber auch dafür aus, »erhebliche Teile des vom nationalso­zialistischen Staat Geschaffenen in den Staatsumbau herüberzunehmen und auf die Dauer zu sichern«. An den antidemokratischen Plänen der Offiziere gibt es ebenso wenig Zweifel wie daran, dass sie erst handelten, als die Niederlage Deutschlands sicher war. Und als sie sich anschickten, einmal in ihrem Leben das Richtige zu tun, haben sie, die Hitlers Vernichtungskrieg so effizient führten, es verpatzt.

Die historischen Fakten über die rechtsextremen Offiziere sind hinreichend bekannt und, von Details abge­sehen, fast unumstritten. Um Opfer der NS-Herrschaft gewesen zu sein, ist keine moralische oder politische Qualifikation erforderlich. Doch werden die langjährigen Nazi-Kollaborateure nicht nur parteiübergreifend in die Gedenkpolitik eingemeindet, sie gelten weiterhin als politisches Leitbild; seit 1999 legen Rekruten der Bundeswehr am 20. Juli ihr Gelöbnis ab. »Das Gewissen und die Haltung der mutigen Männer und Frauen des 20. Juli sind für die Bundesrepublik Deutschland sinnstiftend geworden«, sagte die damalige Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) bei der Gedenkfeier 2020. Das ist zutreffend – und ein Problem.

Widerspruch aber ist in der deutschen Öffentlichkeit – anders als in der Ukra­ine bezüglich des Bandera-Kults – bislang kaum zu vernehmen. Das weckt den Verdacht, dass viele Kritiker Melnyks ihm etwas ganz anderes übelnehmen: Sie fühlten sich offenbar von seiner zuweilen harschen Kritik an der deutschen Politik in ihren patriotischen Gefühlen verletzt.