Die französischen Ordnungskräfte waren beim Finale der Uefa Champions League überfordert

Chaos, Enttäuschung und politische Ausschlachtung

Der Skandal um das Finale der Uefa Champions League in Paris führt nun auch noch dazu, dass Marine Le Pen wieder in die öffentliche Debatte eingreift.

»Darmanin, Lügner!« steht auf einem Transparent, das vorige Woche am Fußballstadion Anfield im britischen Liverpool angebracht wurde. Gemeint ist der alte und neue französische Innenminister Gérald Darmanin, den Präsident Emmanuel Macron bei seiner jüngsten Regierungsumbildung am 20. Mai im Amt beließ. Nun steht der Minister im Zentrum eines französisch-britischen Skandals, der dadurch befeuert wird, dass seit dem EU-Austritt des Vereinigten Königreichs nationale Leidenschaften und Rivalitäten ungezügelter zur Geltung kommen.

Die Fans des FC Liverpool sind derzeit besonders wütend auf Frankreich beziehungsweise dessen Innenminister und die diesem unterstehende Polizei. Ihr Club gab am Donnerstag voriger Woche bekannt, er habe einen »psychologischen Krisenstab« zur Betreuung traumatisierter Anhänger eingerichtet. Es geht um das Chaos, das am Abend des 28. Mai an den Ein- und Ausgängen des ­Stade de France herrschte, des zur Fußballweltmeisterschaft der Männer 1998 errichteten, gut 81 000 Zuschauerinnen fassenden Stadions in der Pariser Vorstadt Saint-Denis. An jenem Abend wurde dort das Finale der Uefa Champions League zwischen dem FC Liverpool und Real Madrid ausgetragen. Ursprünglich hätte das Spiel in Sankt Petersburg ausgetragen werden sollen, die Uefa verlegte es jedoch aufgrund des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine nach Frankreich.

Drei Tage vor dem Spiel hatte die Abteilung der Polizei für Hooligan-Überwachung vor genau dem Szenario gewarnt, das dann eintrat.

Die Anreise gestaltete sich wegen des Beginns der Urlaubssaison in Großbritannien schwierig. Liverpooler Fans, deren Flug annulliert worden war, waren beispielsweise von der britischen Kanalinsel Jersey aus – dorthin war noch ein Flieger gestartet – in einem gecharterten Boot mit Außenbordmotor über den Ärmelkanal nach Saint-Malo über­gesetzt.

Umso größer und herber fiel die Enttäuschung am Stade de France aus, als dort nicht alle Karteninhaber Einlass fanden. Der Hauptgrund ­dafür lag darin, dass sich offenkundig gefälschte Tickets im Umlauf ­befanden. Ökonomisch stand dabei tatsächlich einiges auf dem Spiel, weil die Eintrittskarten für das Spiel derart begehrt waren, dass Tickets unter der Hand für Preise im vierstelligen Bereich weiterverkauft worden waren. Dieses Problem betraf allem Anschein nach ausschließlich britische Fans, die Anhänger von Real Madrid konnten alle rechtzeitig zu Spielbeginn auf ihren Sitzen Platz nehmen. Daher hatten die Real-Fans auch wenig an der Organisa­tion auszusetzen, außer natürlich dass das Match aufgrund der zahlreichen Probleme mit 36 Minuten ­Verspätung angepfiffen wurde.

Wesentlich schlimmer traf es die britischen Fans. Die Unterstützer des FC Liverpool harrten lange an den Vorkontrollen aus. Es war ihr Club gewesen, der von der Uefa gefordert hatte, dass auch Papiertickets und nicht nur elektronische Eintrittskarten ausgegeben werden müssten – wohl um Andenkensammlern entgegenzukommen. Das rächte sich nun, weil sich die Vorkontrollen durch aufwendigere Überprüfungen in die Länge zogen. Unterdessen wurde von drinnen signalisiert, dass die ­Inhaber für echt befundener Karten bereits auf ihren Plätzen sitzende Zuschauer antrafen.

Schließlich wurden die Voreinlasskontrollen überrannt. Von hinten drängte eine immer schneller wachsende Menge, während vorne Menschen begannen, über die Absperrungen zu klettern. Daraufhin stauten sich zahlreiche Personen im Eingangsbereich. Die Sicherheitsangestellten des Stadions zeigten sich zeitweilig völlig überfordert. Der Grund dafür war, dass am selben Abend das Personal in den Vorortzügen des Pariser RER (Réseau express régional) streikten – ihre Gewerkschaften hatten diesen Moment eines besonders starken Fahrgastaufkommens für einen Arbeitskampf gewählt, um ­maximalen Druck auf das Verkehrsunternehmen auszuüben. Sie fordern eine Lohnerhöhung; die Inflation ist in Frankreich derzeit so hoch wie zuletzt 1985. Umso überfüllter waren die wenigen verkehrenden Züge, und die ihnen entsteigenden Fanmassen waren dichter als nor­malerweise.

Dann griff die Polizei ein, die an diesem Abend – zuzüglich Gendarmerie – mit fast 7 000 Beamten im Einsatz war. Und trieb die Menge so auseinander, wie sie es nun einmal beherrscht, nämlich mit bra­chialen Mitteln wie Tränengas. Die französischen Polizeikräfte favori­sieren in solchen Situationen üblicherweise Distanzwaffen, also Tränen- oder Reizgasgranaten, und in jüngerer Zeit auch Einkesselung. In anderen Ländern werden eher in die Menge eindringende Greiftrupps eingesetzt, was der französischen ­Polizei aber als zu riskant gilt.

Der Tränengaseinsatz gegen friedliche Ticketbesitzer wurde weltweit übertragen – insgesamt etwa 400 Millionen Menschen verfolgten das ­Finale. Das dadurch ausgelöste Chaos rief wiederum Taschendiebe und ­Jugendbanden aus der Umgebung auf den Plan, die die Gelegenheit nutzten, im Gewirr den einen oder anderen Gegenstand zu stehlen. Vor allem Madrider Fans berichteten auch, dass Frauen begrapscht oder belästigt worden seien. Solche Erfahrungen steigerten den Unmut noch und trugen dazu bei, dass in den Tagen danach französische Medien von einem »Fiasko vom Stade de France« schrieben. Drei Tage vor dem Spiel hatte übrigens die Abteilung der Polizei für Hooligan-Überwachung vor genau dem Szenario gewarnt, das dann auch eintrat.

Innenminister Darmanin und die seit dem 20. Mai amtierende Sportministerin Amélie Oudéa-Castéra rechtfertigten zunächst den Umgang mit der Situation und insbesondere den Polizeieinsatz öffentlich. Eine »massive, ja industrielle Fälschung« von Tickets habe zu einer völlig unüberschaubaren Situation geführt, argumentierte Darmanin. 40 000 falsche Eintrittskarten seien im Umlauf gewesen. Entsprechend riesig sei die zusätzlich zu den Besitzern ­echter Karten aufgelaufene Menge gewesen.

Darmanins Behauptung scheint enorm übertrieben gewesen zu sein: Die Veranstalter teilten mittlerweile mit, es seien 2 800 falsche Eintritts­tickets an den Eingängen registriert worden. Darmanin hingegen versucht, seine Version zu rechtfertigen, indem er nun die hohe Zahl von Einzelfälschungen betont: Untersuchungen sollen ergeben haben, dass ein echtes Ticket 744 mal, ein weiteres 700 mal kopiert wurde. Vor einem Parlamentsausschuss entschuldigte sich der Innenminister am Mittwoch voriger Woche allerdings bei den Fans, insbesondere bei den Kindern, die unverschuldet vom Tränengaseinsatz in Mitleidenschaft gezogen worden seien.

Unterdessen wurde die Affäre po­litisch instrumentalisiert. Frankreich wählt am 12. und 19. Juni eine neue Nationalversammlung. Bislang plätscherte der Wahlkampf weitgehend ereignislos und ohne ein landesweit prägendes Thema dröge vor sich hin. Die bei der Präsidentschaftswahl im April relativ starke, aber doch unterlegene extreme Rechte vernahm man erstaunlich wenig – ihre An­führerin Marine Le Pen schien nach ihrer dritten verlorenen Präsidentschaftswahl von einer gewissen Politikmüdigkeit erfasst und überließ den Parteivorsitz sowie die Fernsehstudios dem erst 26jährigen Jordan Bardella. Doch seit den Ereignissen von Saint-Denis laufen beide zu Hochform auf, sind nun medial wieder voll präsent und versuchen, ihre Wählerschaft zu mobilisieren.

Frankreichs Regierung schulde den Briten eine Entschuldigung, sagte Le Pen. Ihr und Bardella zufolge ist die Debatte über gefälschte Tickets nur ein Ablenkungsmanöver; das wahre Problem habe im Ansturm von »Horden« von »oft illegalen« Ausländern bestanden, die die Fans im »rechtlosen Raum« der Vorstadt­zone attackiert hätten. Allein dies habe den Polizeieinsatz ausgelöst. Bardella kreierte ein Bonmot, indem er behauptete, die amtierende Regierung riskiere »eine diplomatische Krise mit London, um eine mit Saint-Denis zu vermeiden« – denn die Stadt liegt ihm zufolge längst nicht mehr wirklich in Frankreich, sondern in einer von Immigranten, Islamisten und Kriminellen beherrschten Kriegszone.