Die Prozesse gegen hochbetagte ­mutmaßliche NS-Täter

Der Großelterntrick

Seit einigen Jahren werden regelmäßig Prozesse gegen hochbetagte mut­maßliche NS-Täter geführt, die – wenn überhaupt – nach Jugend­strafrecht verurteilt werden. Die juristische Aufarbeitung der deutschen Verbrechen von 1933 bis 1945 ist im Land der »Aufarbeitungs­welt­meister«­ durchweg mangelhaft.
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Die Nachricht verbreitete sich rasch: Eine 96jährige ehemalige KZ-Sekretärin versuchte, vor dem Beginn des Prozesses gegen sie mit einem Taxi zu fliehen, wurde aber rasch aufgegriffen. Der ehemaligen Sekretärin des Kommandanten des Konzentrationslagers Stutthof wird vorgeworfen, Beihilfe zum Mord in 11 380 Fällen geleistet zu haben.

Fälle wie dieser sorgten in den vergangenen Jahren regelmäßig für Schlagzeilen. Der Leiter der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen, Thomas Will, sagte der ARD, es lägen derzeit noch acht Fälle bei verschiedenen Staatsanwaltschaften und sieben weitere würden von seiner Behörde geprüft.

In NS-Prozessen kommen die Opfer zu Wort, sie berichten von dem Unrecht, das ihnen angetan wurde. Das Unrecht wird als solches benannt und festgehalten.

Wenn hochbetagte NS-Verbrecher auf der Anklagebank sitzen, wirft das Fragen auf: Warum werden die Prozesse so spät geführt? Bringt es überhaupt noch etwas, diese Menschen zu verurteilen? Nicht selten mischen sich apologetische Stimmen in die Debatte, die meinen, eine Strafverfolgung sei überflüssig, die Täter seien irrelevant, oder gar solche, die Sympathie mit den Angeklagten bekunden. Die Welt überschrieb einen Artikel von Alan Posener provokant mit der Forderung: »Lasst die KZ-Sekretärin laufen!«

Der Ruf nach Verjährung ist nicht neu. 1965, wenige Monate vor dem Ende ­des Frankfurter Auschwitz-Prozesses, beschäftigte sich der Bundestag mit der Verjährungsfrist von Mordfällen. Mord verjährte damals nach 20 Jahren, so dass im selben Jahr NS-Täter nicht mehr hätten belangt werden können. Die Bundestagsabgeordneten stimmten mehrheitlich für den »Kompromiss«, die sogenannte Verjährungshemmung bis 1969 zu verlängern. Der Philosoph Karl Jaspers kommentierte einen Tag vor der Abstimmung im Gespräch mit dem Spiegel: »Die Frist um zehn Jahre zu verlängern oder die Tricks, die Ausgangstermine zu verschieben, oder andere, wären ausweichende Methoden. Die Einsicht kann nur die sein: überhaupt keine Verjährung. Alles andere verwischt das Problem.«

1969 gab der Bundestag die Verjährung für Völkermord auf. Für Mord wurde die Frist auf 30 Jahre erhöht, ihr Beginn war für Verbrechen während des Nationalsozialismus bereits zuvor auf 1950 verlegt worden. Abgeschafft wurde die Verjährungsfrist erst 1979. Zuvor hatte das Europäische Parlament an die Europäische Konvention über die Unverjährbarkeit von Kriegsverbrechen und von Verbrechen gegen die Menschheit erinnert. Außerdem wurde im selben Jahr die US-amerikanische Serie »Holocaust« in Deutschland ausgestrahlt und erreichte ein großes Publikum. Ob diese äußeren Einflüsse das Problembewusstsein der deutschen Öffentlichkeit verändert hatten, ist zweifelhaft. Eine realistischere Begründung für die Abschaffung der Verjährung scheint eher, dass die NS-Täter bereits im fortgeschrittenen Alter und weniger präsent im öffentlichen Leben waren.

Die derzeit stattfindenden beziehungsweise anstehenden Prozesse kommen in der Tat spät. Das hat verschiedene Gründe, von denen der gewichtigste wohl die jahrzehntelang mangelnde Bereitschaft zur juristischen Aufarbeitung war. Etliche Einzelbiographien geben darüber Auskunft, wie unbehelligt die Täter blieben. Um ein beliebiges Beispiel zu nennen: Ein Student des österreichischen Politikwissenschaftlers Walter Manoschek spürte 2008 durch Zufall Adolf Storms auf, der 1945 an einem Massaker an 60 jüdischen Zwangsarbeitern in Deutsch-Schützen beteiligt war und anschließend einen Todesmarsch mit 400 Juden mitorganisierte. Seit 1946 fahndeten die deutschen und österreichischen Behörden nach Storms. Offenbar nicht mit großem Einsatzwillen: Der Student fand ihn im Telefonbuch.

Zum Unwillen der Behörden kam die Schwierigkeit, einzelnen Morde in konkreten Fällen nachzuweisen. Das änderte das Urteil gegen John Demjanjuk 2011. In dessen Begründung sagte der Richter Ralph Alt: »Der Angeklagte war Teil dieser Vernichtungsmaschinerie.« Demjanjuk musste demnach nicht nachgewiesen werden, mit seinen eigenen Händen gemordet zu haben, um wegen Beihilfe verurteilt zu werden. Im Urteil von 2016 gegen Oskar Gröning, der als SS-Unterscharführer von 1942 bis 1944 in der Verwaltung des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz tätig war, wurde diese neue Sicht noch einmal bekräftigt, so dass mittlerweile verstärkt Prozesse angestrengt werden können, die früher weniger aussichtsreich gewesen wären.

Oft wird das Argument vorgebracht, die Strafverfolgung komme so sehr zu spät, dass ein gerechtes Urteil ohnehin nicht mehr möglich sei. Das verkennt jedoch, dass es in diesen Prozessen um gerechte Urteile nicht gehen kann, denn wie sollte Gerechtigkeit angesichts tausendfachen Mords aussehen? Bei der Frage nach dem Sinn dieser Prozesse lohnt es sich – wie so oft –, die Überlegungen Fritz Bauers zu Rate zu ziehen, der als hessischer Generalstaatsanwalt den Frankfurter Auschwitz-Prozess ab 1963 anstrengte.

Bauer führte immer wieder das recht formale Argument an, dass ein Staatsanwalt keine Wahl habe, Verbrechen zu verfolgen oder nicht. Diese Haltung spiegelt die im Rechtspositivismus gängige Skepsis gegen Gründe, die außerhalb des Rechts selbst liegen. Jedoch belässt es Bauer nicht dabei. Im Aufsatz »Antinazistische Prozesse und politisches Bewusstsein. Dienen NS-Prozes­se der politischen Aufklärung?« (1965) verwirft Bauer Erwägungen, die dem Prozess sozialpädagogische Absichten gar zur Resozialisierung der Täter zugrunde legen, und schreibt: »Obwohl Gesetzgebung und Rechtsprechung hierzulande somit gerne der Maxime Richard Wagners folgen, deutsch sein heiße, eine Sache um ihrer selbst willen tun, wogegen das Nützlichkeitswesen sich als undeutsch herausstellte, ist jeder Strafprozess ein Index dessen, was nach Gesetz und Rechtsprechung rechtens ist.« Obwohl es sich dabei um ein strafrechtliches »Nebenprodukt« handele, sei es »geschichtlich und politisch, auch rechtsgeschichtlich und rechtspolitisch von größerem Gewicht als der Versuch eines vergeltenden Ausgleichs des überdimensionalen Bösen der nazistischen Taten durch die Verhängung einer befristeten oder unbefristeten Strafe«.

In den Prozessen kommen die Opfer zu Wort, sie berichten von dem Unrecht, das ihnen angetan wurde. Das Unrecht wird als solches benannt und festgehalten. Die Pflicht dazu kann selbstverständlich nicht verjähren, weshalb die Prozesse auch heute noch notwendig sind, wenngleich sie früher hätten geführt werden müssen. Bauer blickt nicht nur auf die Vergangenheit der zurückliegenden Verbrechen, deren »Wiedergutmachung« ohnehin nicht zu haben ist, und hält fest: »Die Prozesse sind aus einem anderen, tieferen Grunde notwendig. Sie müssen die Frage nach dem Warum aufwerfen, denn ohne Antwort auf das Warum, nach den Wurzeln des Bösen, nach den Wurzeln des Kranken gibt es kein Heil und keine Heilung. Gemeint ist damit die vielberedete Bewältigung der Vergangenheit, was in Wahrheit Bewältigung der Gegenwart und Zukunft meint.«

Der Journalist und Rechtswissenschaftler Ronen Steinke fasste in der Biographie »Fritz Bauer oder Auschwitz vor Gericht« (2013) zusammen: Bauer gehe es »durchaus um Prävention – nur nicht im herkömmlichen Sinne. Bauer denkt dabei nicht daran, individuelle KZ-Schergen den Preis ihrer Verbrechen vor Augen zu führen, damit sie solche Verbrechen nicht erneut begehen. Sondern: Wenn die pechschwarze Vergangenheit des Nationalsozialismus in das grelle Licht eines Gerichtssaals gezerrt wird, dann ist das Beste, was man sich von so einem Prozess erhoffen kann, eine Lehre für die Zukunft – für das Publikum.«

Die Reaktionen auf die Prozesse heutzutage zeigen nach wie vor, wie unwillig dieses Publikum ist. Im Internet gibt es viele Kommentare, die fordern, man solle die alten Menschen in Ruhe lassen, da sie ja damals lediglich verführt worden seien. Das entspricht einer weitverbreiteten Haltung: Der Studie »Multidimensionaler Erinnerungsmonitor 2021« eines Forscherinnenteams der Universität Bielefeld zufolge sprechen 20 Prozent der Befragten die deutsche Bevölkerung von einer »Mitverantwortung für die Verbrechen des Nationalsozialismus« frei und weitere 25 Prozent sind sich bei dieser Frage unsicher.

Die Zeugenschaft von Davongekommenen und ihren Nachfahren für das historisch Konkrete steht solchen Haltungen entgegen. Im Prozess gegen ­einen damals 93jährigen ehemaligen KZ-Wachmann 2019 wandte sich der Davongekommene Abraham Koryski während seiner Aussage direkt an das Publikum: »Ich frage euch alle hier: Kann man glauben, dass Menschen so etwas tun?« Auf die Frage der Richterin, warum er sich zur Aussage entschlossen habe, begann Koryski zu weinen und sagte dann: »Ich will, dass die Welt erfährt, was passiert ist. Alle sollen alles wissen.«