Dabei sein war alles
War es eine Ironie der Geschichte oder doch die Wiederkehr des elendigen Immergleichen? Beate Zschäpe, Hauptangeklagte im NSU-Prozess, ließ nach langem Schweigen am 9. Dezember 2015 über ihren Anwalt erklären, dass sie sich zwar moralisch schuldig fühle, aber keine strafrechtliche Verantwortung für die NSU-Mordserie trage (Jungle World 51/2015). Zschäpes Bekenntnis zur moralischen Schuld erinnert im Jargon an die Verteidigungsstrategie des ehemaligen SS-Unterscharführers Oskar Gröning, der im vergangenen Jahr wegen seiner Tätigkeit als Buchhalter im Vernichtungslager Auschwitz wegen Beihilfe zum Mord in 300 000 Fällen angeklagt wurde (Jungle World 19/2015). Gröning bekannte sich zwar zu einer moralischen Schuld. Er sei aber juristisch nicht für die systematische Ermordung von Menschen zu belangen, da er nie an unmittelbaren Tötungen beteiligt gewesen sei, so seine Argumentation. Diese Erklärung vom kleinen Rädchen im Getriebe war für die Lüneburger Richter juristisch irrelevant. Sie verurteilten Gröning wegen Beihilfe zum Mord in 300 000 Fällen zu einer vierjährigen Haftstrafe.
In diesem Jahr sollen mindestens drei weitere Auschwitz-Prozesse eröffnet werden. Die Verfahren stützen sich auf Vorermittlungen der Zentralen Stelle zur Aufklärung von NS-Verbrechen in Ludwigsburg, in deren Rahmen bereits im Februar 2014 bundesweit Wohnungen von 14 Verdächtigen durchsucht wurden. Auch der neue Leiter der Zentralen Stelle, Jens Rommel, gab bei seiner Ernennung im Oktober 2015 an, dass er weiterhin NS-Verbrechen aufklären und nach den Verantwortlichen suchen wolle. Der Gröning-Prozess war also aller Wahrscheinlichkeit nach nicht das Ende der juristischen Aufarbeitung.
Im Februar soll am Landgericht Detmold der Prozess gegen den ehemaligen SS-Unterscharführer Reinhold H. beginnen, der sich wegen Beihilfe zum Mord an 170 000 Menschen verantworten muss. Die von der Staatsanwaltschaft Dortmund eingesetzte Zentralstelle für die Bearbeitung von nationalsozialistischen Massenverbrechen wirft dem 93jährigen Rentner aus Lippe vor, zwischen 1943 und 1944 am Massenmord in Auschwitz beteiligt gewesen zu sein. Dort soll der Angehörige des SS-Totenkopfsturmbanns für die Bewachung des Stammlagers und der ankommenden Transporte zuständig gewesen sein. Die Staatsanwaltschaft geht davon aus, dass der Beschuldigte volle Kenntnis von den Tötungsmethoden im Lager hatte. Ihm müsse zudem bewusst gewesen sein, dass nur durch den Beitrag einzelner Gehilfen wie ihm die Tötungsmaschinerie aufrechterhalten werden konnte. Die 170 000 Fälle beziehen sich auf Massenerschießungen, Selektionen an der Rampe, insbesondere die der jüdischen Deportierten aus Ungarn, und auf die Schaffung von Lebensverhältnissen, die ein Überleben der Gefangenen unmöglich machten.
Auch in Hanau könnte bald ein ähnlicher Prozess beginnen. Die Staatsanwaltschaft Frankfurt will ein früheres SS-Mitglied, das in Auschwitz Wachdienst verrichtete, wegen Beihilfe zum Mord belangen. Der Mann ist mittlerweile 92 Jahre alt und dürfte bei Zustandekommen des Prozesses zu den ältesten Personen gehören, die jemals vor einem Jugendgericht standen. Der Fall soll vor der Jugendkammer des Landgerichts Hanau verhandelt werden, weil der Angeklagte zur Tatzeit erst 19 Jahre alt war. Im Januar wird die Kammer eine Entscheidung zur Verfahrenseröffnung treffen. Der Prozess könnte im April beginnen.
Im Fall des ehemaligen SS-Sanitäters Hubert Z. widerrief das Oberlandesgericht Rostock kürzlich eine Entscheidung des Landgerichts Neubrandenburg. Es schloss sich der Schweriner Staatsanwaltschaft an und erklärte den Mann für verhandlungsfähig. Auch in diesem Verfahren ist ein baldiger Prozessauftakt wahrscheinlich. Dem Angeklagten wird ebenfalls Beihilfe zum Mord vorgeworfen. Der 94jährige habe sich als Mitglied der SS-Sanitätsstaffel von Auschwitz-Birkenau unterstützend in die Lagerorganisation eingefügt. Indem er die Handlungsfähigkeit des SS-Personals gewährleistete, habe er das Vernichtungsgeschehen gefördert, so die Staatsanwaltschaft. Sie bezieht sich auf die 14 Deportationszüge, die zwischen dem 15. August und dem 14. September 1944 eintrafen, dem Zeitraum des Einsatzes des Beschuldigten in Auschwitz. Die Anklage lautet auf Beihilfe zum Mord in 3 681 Fällen. Christoph Heubner, der geschäftsführende Vizepräsident des Internationalen Auschwitz-Komitees, sieht in den kommenden Verfahren einen »weiteren Akt der späten Gerechtigkeit für die Überlebenden«. Zudem seien diese Prozesse »angesichts der Zukunfts- und Gewaltphantasien, die Rechtsextreme und Neonazis heute nicht nur in Deutschland mit dem Wort Auschwitz in Verbindung bringen, von beklemmender Aktualität«, so Heubner in der jüngsten Pressemitteilung der Organisation.
Der Verweis auf gesellschaftliche Entwicklungen ist zwar richtig. In den Prozessen geht es jedoch in erster Linie um die Feststellung individueller Schuld bei gemeinschaftlich verübten Taten – was die deutsche Justiz lange unterließ. Bis zum Prozess gegen John Demjanjuk im Jahre 2011 ignorierten die Gerichte den arbeitsteilig organisierten Charakter der Vernichtungsmaschinerie Auschwitz und die aus der Arbeitsteilung erwachsenden Konsequenzen für die Feststellung individueller Schuld. Der Dienst in dem Vernichtungslager allein reichte bis 2011 nicht aus für eine Verurteilung.
Erst jüngere globale Entwicklungen im Bereich des internationalen Terrorismus und der organisierten Kriminalität veranlassten die deutsche Justiz, die Arbeitsteilung bei organisierten Verbrechen in der Rechtsprechung stärker zu berücksichtigen. Dass sich nach Demjanjuk auch Gröning und anderes ehemaliges Personal aus Auschwitz doch noch vor Gericht wegen Beihilfe zum Mord verantworten müssen, liegt nicht zuletzt an der veränderten Rechtsprechung, die seit den Terrorangriffen vom 11. September 2001 den Straftatbestand der Beihilfe zum Mord strenger ahndet. So wurde der Hamburger Student Mounir al-Motassadeq 2007 zu 15 Jahren Haft wegen Beihilfe zum Mord in 246 Fällen verurteilt. Er hatte Geld an die Attentäter, die die Anschläge auf das World Trade Center verübten, überwiesen und somit geholfen, die Taten wie geplant auszuführen.
Der immer wieder erhobene Einwand, die Bereitstellung von Personal und materiellen Ressourcen für diese Prozesse sei sinnlos, da die Angeklagten wegen ihres hohen Alters eine Haftstrafe ohnehin nicht antreten könnten, spielt aus juristischer Sicht keine Rolle. Es geht in diesen Gerichtsverfahren nicht primär um eine Strafe und noch weniger um symbolische Akte der Wiedergutmachung des jahrzehntelanwgen Versagens der Justiz, sondern um die Feststellung von strafrechtlicher Schuld. Diese Prozesse zu führen, ist daher keine moralische, sondern eine juristische Pflicht. Die Rechtsprechung kennt erstens keine Verjährung in Mordfällen und orientiert sich zweitens am Prinzip der Gleichheit vor dem Gesetz. Das bedeutet: Menschen dürfen auch nicht wegen ihres Alters diskriminiert werden. Auf die Auschwitz-Prozesse bezogen heißt dies mit den Worten von Thomas Walther, Rechtsanwalt der Nebenkläger im Gröning-Prozess: »Schluss ist erst, wenn Schluss ist.«