Im Gespräch mit dem Politologen Siarhei Bohdan über die Ziele Russlands in Belarus

»Der Gewinner heißt Putin«

Das belarussische Regime hat die landesweiten Proteste mit harter Repression unterdrückt. Doch das Regime ist geschwächt und hat an Legitimität verloren. Russland nutzt das, um Einfluss zu nehmen.
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Ich bin in einem Ort zwischen Minsk und Vilnius, in Minsk war ich in den vergangenen zwei Monaten fünf Mal. Ich hatte nur einen kurzen Urlaub in Belarus geplant, aber nach meiner Einreise setzte die Europäische Union alle Flüge aus (als Reaktion auf die erzwungene Landung eines Ryanair-Flugzeuges in Minsk unterbrach die EU am 5. Juni den Flugverkehr mit Belarus, Anm. d. Red.). Es ist jetzt wieder wie in der Sowjetzeit: Man kann nur über Moskau ins westliche Europa fliegen. Von solchen Maßnahmen profitiert meiner Meinung nach nur Russland.

Wie ist die Atmosphäre ein Jahr nach Beginn der Proteste?

Als ich im August und September 2020 hier war, spürte man die Proteste auch in kleinen Städten und Dörfern, selbst auf dem Land sah man Flaggen, Slogans und Graffiti. Heute muss man selbst in Minsk lange nach oppositionellen Botschaften suchen. Gleichzeitig ist die Unsicherheit des vergangenen Herbstes vorbei, als man sich oft fragte, ob es sicher sei, nach Minsk zu fahren. Nicht nur wegen der Polizei: Demonstranten stoppten damals Autos auf den Landstraßen und waren dabei manchmal ziemlich aggressiv.

Wie versucht das Regime, sich an der Macht zu halten?

Das Land ist nach wie vor destabilisiert. An der Herrschaftstechnik des Regimes hat sich nicht viel geändert, sie ist nur noch primitiver geworden, verlässt sich noch mehr auf Gewaltinstrumente und Festnahmen. Das Regime hat schon vor Jahren die diskursive und kulturelle Hegemonie verloren. Es appelliert an die Bürger, den Staat zu unterstützen, kann aber kaum noch begründen, warum eigentlich. Die Legitimität ist einfach weg, das Regime bleibt schwach. Selbst die Sicherheitsstrukturen sind schwach. Das stark personalisierte Regime um Lukaschenko ist sehr primitiv und kaum institutionalisiert. Die Strukturen der Unterstützer Lukaschenkos sind im Grunde reine Fiktionen, es handelt sich um Verbände von Direktoren, Fabrik- und Schulleitern – und Leuten, die Mitglied werden müssen, um ihren Job nicht zu verlieren. Es gibt seit vorigem Jahr ein klar gesteigertes Niveau des russischen Einflusses.

Wie hat Russland in Belarus interveniert?

Zu Beginn der Proteste bat Lukaschenko den Kreml um Entsendung von Truppen, kürzlich erst bekräftigte er erneut, er werde nicht zögern, russische Truppen einzuladen, falls das nötig werde. Die Truppen blieben damals, Gott sei Dank, an der Grenze. Aber der russische Geheimdienst FSB schickte Personal nach Belarus. Dazu kamen Journalisten aus Russland, die halfen, das belarussische Fernsehen weiter zu betreiben, nachdem dort viele Journalisten entlassen worden waren oder gekündigt hatten. Jetzt versucht das Regime eine Art Pseudoopposition aufzubauen, etwa um den Politiker Juri Voskresenskij, auch da findet man Berater und Spezialisten aus Russland für »politische Technologie«, wie man das dort nennt.

»Das Regime hat schon vor Jahren die diskursive und kulturelle Hegemonie verloren.«

Auch viele Propagandakampagnen, die im vorigen Jahr vom Regime lanciert wurden, tragen meiner Ansicht nach eine russische Handschrift. Der Repressionskampagne gegen NGOs seit Anfang Juli ging ein Besuch des Vor­sitzenden des russischen Sicherheitsrats Nikolai Patruschew Ende Juni in Belarus voraus, der Lukaschenko nahelegte, es sei Zeit, gegen NGOs vorzugehen. Viele, selbst Mitarbeiter von Tichanowskaja, mit denen ich gesprochen habe, messen der russischen Rolle keine entscheidende Bedeutung zu – das Regime habe ja auch schon vorher NGOs als Feinde markiert. Aber ich denke, der russische Einfluss ist wichtig. Das Wasser siedet hier sozusagen auf einer Temperatur, die dem Kreml passt. Viele NGOs haben Verbindungen zum Westen. Gegen sie vorzugehen, zerstört das Verhältnis zu den europäischen Nachbarstaaten weiter und mindert so die Möglichkeiten für Lukaschenko, doch noch eine Lösung mit der EU zu finden. Russland will die Verbindungen zum Westen zerstören.

Was will Russland in Belarus er­reichen?

In Lukaschenkos Staat konnte der Kreml lange nur sehr schwer Einfluss nehmen. Russland will ein anderes, offeneres Modell, vielleicht mit mehr Macht für das Parlament, damit es prorussische Parteien aufbauen kann, um Druck auf die Regierung ausüben zu können. Russland will zudem die politische und wirtschaftliche Autonomie von Belarus reduzieren. Die westlichen Sanktionen spielen dem in die Hände: Sie führen schon jetzt dazu, dass einige belarussische Betriebe dazu neigen, ihre Produktion für den russischen Markt nach Russland zu verschieben. Der Gewinner heißt Putin.

Warum will Russland Einfluss in Belarus?

Der russischen Staatsführung geht es um ihr Verständnis von Sicherheit. Belarus ist nah am Kern Russlands: Hinter der belarussischen Grenze fängt fast schon Moskauer Gebiet an, selbst die Ukraine ist weiter weg. Belarus hatte sich immer geweigert, russische Truppen im eigenen Land zu akzeptieren, es gab nur zwei hochspezialisierte technische Objekte des russischen Militärs, ein Radar- und ein Kommunikationszentrum. Jetzt aber geht es de facto um Truppenstationierung, die zunächst in Form eines gemeinsamen Trainingszentrums der russischen und belarussischen Luftwaffe kommt. Ab diesem Sommer sollen auch russische Jagdflugzeuge neben belarussischen auf Flugplätzen stationiert werden. Die Entwicklungen im Militärbereich sind prä­zedenzlos.

Um was für militärische Veränderungen geht es?

Gemeinsame Militärübungen der beiden Länder waren in der Vergangenheit sehr begrenzt, aber im vergangenen Herbst wurde plötzlich und ohne Warnung aus dem regelmäßigen Manöver »Slawische Bruderschaft« eine viel größere Aktion als in den Jahren zuvor. Zum ersten Mal in der Geschichte des unabhängigen Belarus wurde eine große Landeoperationen mit gleichzeitiger Beteiligung der russischen strategischen Luftwaffe durchgeführt, direkt an der Grenze zu Polen und der Ukraine. Im Frühjahr nahmen erstmals russische Soldaten an internen Veranstaltungen der belarussischen Armee teil. Belarus macht all das mit knirschenden Zähnen. Das Regime versucht, seine Unabhängigkeit zu bewahren, aber Russland kann mit Konsequenzen drohen.

Also versucht Russland, sich Belarus als Verbündeten zu sichern?

Die Leute im Kreml sehen Sicherheitsfragen recht primitiv, die wollen direkte militärische Kontrolle. Die belarussischen Streitkräfte wollten lieber eigene russische Flugzeuge, aber Russland wollte ein eigenes Luftwaffenregiment in Belarus stationieren. Genauso war es in der Vergangenheit mit dem Iskander-Raketensystem: Russland sagte, diese könnten nur mit russischem Militärpersonal in Belarus stationiert werden.

Russland hat keine richtige Vorstellung davon, was eine Allianz ist, für den Kreml ist ein Verbündeter jemand, der Befehle ausführt. Putin zitierte einmal den Ausspruch des Zaren Alexander III., Russland habe keine Verbündeten außer der eigenen Flotte und der Armee. Deshalb ist Russland mit Lukaschenko auch noch nicht am Ende. Der Kreml wird in Belarus noch vieles ändern.

Was wären die Konsequenzen, wenn Belarus unter russische Kontrolle gerät?

Das Land würde weiter destabilisiert werden. Im schlimmsten Fall könnte so eine Grauzone an der Grenze zur EU entstehen, vergleichbar mit Südossetien und Abchasien, den von Russland gestützten, international nicht anerkannten Staaten in Georgien – aber zwanzigmal so groß. Das wäre schlecht für die Stabilität Europas, aber auch für die Entwicklung der Region.

Warum wäre das für die Region ein Problem?

In den vergangenen Jahren gab es strategische und geopolitische Umwälzungen, die sehr besorgniserregend sind. Alle vergrößern die Armeen, ob nun Lettland, die Ukraine oder Litauen, ob Russland oder die Nato. Dass jetzt auch noch Belarus da hineingezogen wird, verschärft die Lage. Belarus war in den Jahren zuvor nicht neutral, aber nah daran. Der belarussische Süden an der Grenze zur Ukraine wurde in den 2010er-Jahren de facto demilitarisiert. Auf der anderen Seite hatte auch Lettland in der Provinz Lettgalen an der Grenze zu Belarus kaum Truppen. Vor den Ereignissen im vergangenen Jahr versuchte Lukaschenko, die Armee zu verkleinern und klarzumachen, dass man sich nicht auf eine gemeinsame Kriegsführung zusammen mit dem russischen Militär vorbereite. Jetzt ist es anders, wir können wirklich davon sprechen, dass bald russische Truppen 300 Kilometer weiter westlich stehen werden.

Wie wirkt sich diese Entwicklung auf die Region aus?

Parallel zu den strategischen Umwälzungen gibt es Verlagerungen im politisch-ökonomischen Bereich. Die Häfen im Baltikum waren für das belarussische Gebiet seit Jahrhunderten die Hauptroute für den Export. Jetzt werden Ölprodukte nicht mehr über EU-Häfen verschifft, sondern über Russland. Die Sanktionen der EU wirken sich hier aus. Ich halte diese Entwicklungen für sehr gefährlich, weil sie die Kriegsgefahr erhöhen und die wirtschaftliche Entwicklung der ganzen Region hemmen. Ein anderes Beispiel ist der Gas­tran­sit. Die EU setzt sich dafür ein, dass auch nach der Fertigstellung der Pipeline Nord Stream 2 weiter Gas durch die Ukraine fließen wird, aber für Belarus werden sie das nicht tun. Schon im letzten Quartal dieses Jahres will Gazprom den belarussischen Gastransit stark reduzieren. So wird das belarussische Regime schwächer, es wird aber auch insgesamt die belarussische Eigenstaatlichkeit schwächer und die Bevölkerung ärmer.

Was für Fehler haben die westlichen Länder gemacht?

Ich halte die ganze Sanktionspolitik, solange sie nicht personenbezogen ist, für falsch. Der belarussische Staat droht so mehr und mehr in der Luft zu hängen und hat bald nichts mehr, wo­rauf er sich stützen kann, außer auf neue Kredite aus Russland. Hinzu kommt, dass verschiedene Leute in führenden Positionen im belarussischen Staat auch heute noch Sympathien mit der Opposition haben. Das Regime ist sehr wacklig. Man hat Chancen verpasst, denen ein Angebot zu machen.

Welche Fehler hat die Opposition begangen?

Ich würde so weit gehen zu sagen, dass gewisse oppositionelle Kräfte vor den Wahlen nie das Ziel hatten, das Regime tatsächlich zu stürzen, sondern die Proteststimmung nutzen wollten, um Druck auf das Regime auszuüben, eventuell auch mit der Absicht, das Land näher an Russland zu bringen. Die Regimepropaganda behauptet mittlerweile, hinter der Opposition habe immer schon der Westen gestanden, aber das stimmt nicht. Meiner Meinung nach wird der russische Einfluss viel zu wenig diskutiert, und zwar schon seit langem. Wenige hatten damals Interesse, bei einem Kandidaten wie Wiktar Babaryka, der fast seine ganze Karriere in den Strukturen des russischen Staatskonzerns Gazprom verbracht hat, kritische Fragen zu stellen (Babaryka war Vorsitzender der Gazprom-Tochter Belgazprombank, bis er 2020 bei den Präsidentschaftswahlen kandidierte. Im Juni vor der Wahl wurde er verhaftet; Präsident Lukaschenko sprach von Versuchen aus Russland, das Land bei den Wahlen zu destabilisieren, Anm. d. Red.).

Das Ziel der Opposition nach der Wahl war es aber, Lukaschenko zu stürzen. Warum ist sie damit gescheitert?

Ein Fehler des Koordinationsrates war es, die Arbeiter nicht stärker einzubeziehen. Es hätte auf der Hand gelegen, die Abschaffung des Systems der Kurzzeitverträge, unter dem fast alle belarussischen Arbeiter leiden, zu fordern. Sofort hätte man die Unterstützung eines großen Teils der Bevölkerung gehabt. Diese Kurzzeitverträge sind wie ein Traum der Neoliberalen. Nicht nur haben die Arbeiter keine langfristige Jobsicherheit, sie können auch jederzeit entlassen werden, das hält das ganze Land an einer sehr kurzen Leine. Aber der Oppositionsrat hat das nicht zu seinem Thema gemacht, es wurden überhaupt kaum soziale Themen, Arbeiterrechte oder soziale Garantien für die Bevölkerung angesprochen, obwohl viele Aktivisten vor Ort das erwartet hatten.

Wie ist das zu erklären?

Durch die Politik und Ideologie dieser sogenannten neuen Opposition. Im Präsidium dieses Koordinationsrates, der sieben Mitglieder hat, wurde auf dem Höhepunkt der Proteste im August letzten Jahres nur ein Arbeiter aufgenommen. Dabei wären Ende August, Anfang September, als das Regime zu wackeln schien, die Industriearbeiter die einzige Kraft gewesen, die das Regime vielleicht in die Knie hätten zwingen können. Leider hegt die postsowjetische Intelligenz oft keine Sym­pathien für Arbeiter. Die politische Linie war, keine sozialistischen Forderungen zuzulassen. Manchmal sieht man in dieser Hinsicht wenig Unterschied zwischen Regierung und dieser neuen Opposition – beide sind neoliberal.

 

Siarhei Bohdan ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Friedrich-Meinecke-Institut der FU Berlin und Experte für Sicherheitspolitik. Von 1999 bis 2011 war er Journalist bei der unabhängigen belarussischen Wochenzeitung »Nascha Niwa«. Bevor er 2011 aus Belarus auswanderte, nahm er selbst an oppositionellen Aktivitäten teil.