Spektakuläre Gewalttaten befeuern die Sicherheitsdebatte in Frankreich

Die autoritäre Versuchung

Spektakuläre Tötungsdelikte an Angehörigen der Polizei und Frauen heizen in Frankreich eine Debatte über die innere Sicherheit an.

»Ja, die Gewalt in unserer Gesellschaft nimmt zu.« Diese Aussage, die der französische Staatspräsident Emmanuel Macron am Samstag am Rande des EU-Gipfels im portugiesischen Porto tätigte, hat beträchtlichen Einfluss auf die innenpolitische Debatte in Frankreich. Seine Opponenten auf der politischen Rechten legen sie ihm als Ein­geständnis des Versagens aus. Talkshows im Fernsehen stehen unter Titeln wie: »Die innere Sicherheit, Macrons Schwachstelle?« oder »Wird die Wahl 2022 an der innere Sicherheit entschieden?«.

Mehrere spektakuläre Gewalttaten prägten die französische Innenpolitik in den vergangenen Wochen. Sie verschmelzen in der medialen Darstellung zu einem einheitlichen Bedrohungsszenario, obwohl die einzelnen Geschehnisse eine unterschiedliche Bewertung verdient hätten.

Zwei Polizeibedienstete fanden im Abstand von zwölf Tagen den Tod. Am 23. April ermordete in Rambouillet südwestlich von Paris der tunesische Staatsbürger Jamel Gorchane im Eingangsbereich einer Polizeiwache die 49jährige polizeiliche Verwaltungsangestellte Stéphanie Monfermé. Seine Motive sind als jihadistisch einzustufen, er rief bei seiner Messerattacke »Allahu akbar«, wobei eine Verbindung zu entsprechenden Organisationen bislang nicht nachzuweisen ist. Gorchane hatte psychische Problemen, wenige Wochen vor seiner Tat hatte er in Tunesien einen Exorzisten getroffen; auf seinem Telefon wurden zahlreiche kinderpornographische Bilder gefunden. Er wurde mit dem Messer in der Hand erschossen.

Im südfranzösischen Avignon erschoss am 5. Mai mutmaßlich ein Dealer den 36jährigen Polizisten Éric Masson bei einer Kontrolle; Anwohner hatten die Polizei informiert, weil am Tatort zuvor offenbar Drogen verkauft worden waren. Masson war von einem Auswärtseinsatz zurückgekehrt und trug Zivilkleidung, zu Beginn der Persona­lienaufnahme streifte er sich eine Armbinde mit der Aufschrift »Polizei« über. Der Schütze konnte zunächst ent­kommen und sich versteckt halten; in der Umgebung des Tatorts, in den Gassen der Altstadt von Avignon, existiert keine Videoüberwachung.

Am späten Sonntagabend wurden an einer Autobahnzahlstelle in Remoulins unweit von Avignon vier Verdächtige festgenommen. Nach ersten Erkenntnissen soll es sich bei ihnen um den mutmaßlichen Todesschützen, dessen Schwester, einen zum Tatzeitpunkt ebenfalls anwesenden mutmaßlichen Komplizen und den Fahrer des Fluchtfahrzeugs handeln; die vier sollen auf dem Weg nach Spanien gewesen sein. Demnach handelt es sich bei den beiden Hauptverdächtigen um französische Staatsangehörige, einer 20, der andere 19 Jahre alt, die bereits wegen Drogendelikten polizeibekannt waren.

Zunächst blieb unklar, warum der Schütze das Risiko einging, wegen einer vergleichsweise banalen Kontrolle – ­einem Kleindealer droht eine Höchststrafe von einem Jahr Haft – das ungleich höhere Risiko einer Mordanklage einzugehen. Polizeisprecher erklärten dies zum Teil mit einer »Enthemmung der Gewalt« und der Erwartung von Straflosigkeit wegen einer angeblich systematisch laschen Justiz; Journalisten mutmaßten, der Schütze habe vielleicht fälschlich angenommen, es mit einem rivalisierenden Drogenverkäufer statt mit einem Vertreter der Staatsgewalt zu tun zu haben. Unter Dealern hat es in den vergangenen Monaten, vor allem im Raum Marseille und Toulouse, eine Reihe von Tötungen gegeben.

Ein drittes Verbrechen fand am 4. Mai in Mérignac bei Bordeaux statt. Es handelte sich um den 39. Frauenmord dieses Jahres. Bei dieser besonders ­brutalen Tat schoss der Maurer Mounir Boutaa, ein französisch-algerischer Doppelstaatsbürger, seiner 31jährigen Ehefrau Chahinez, Mutter dreier Kinder, zweimal in die Schenkel, überschüttete dann die am Boden liegende mit einer brennbaren Flüssigkeit und zündete sie an. Der Tod soll durch Rauchvergiftung eingetreten sein. Der Ehemann soll zudem einen Nachbarn, der einzugreifen versuchte, mit der Schusswaffe bedroht haben; er sitzt mittlerweile in Untersuchungshaft.

Talkshows im Fernsehen stehen unter Titeln wie »Die innere Sicherheit, Macrons Schwachstelle?« oder »Wird die Wahl 2022 an der inneren Sicherheit entschieden?«.

Die grausame Tat von Mérignac, die zu Protest- und Solidaritätskundgebungen für das Opfer führte, wurde in der Berichterstattung in ein Gesamtbild der Bedrohung und anwachsender Gewalt eingebettet. In diesem Falle liegt allerdings auch der Verdacht auf ein Behördenversagen vor. Seit März hatte Chahinez Boutaa den zuständigen Polizeidienststellen mitgeteilt, von ihrem getrennt lebenden Ehemann bedroht zu werden, nachdem dieser aus der Haft entlassen worden war – ­unter Auflagen, an die er sich nicht hielt. Zuvor war er zu neun Monaten Haft ohne und neun weiteren Monaten auf Bewährung verurteilt worden, unter anderem wegen häuslicher Gewalt, nachdem er seiner Frau die Luftröhre zugedrückt hatte. Er hatte vier Monate der Haftstrafe abgesessen.

Seit 2017/2018 kündigt die Justiz unter dem Eindruck der »Me too«-Kampagne Reformen und Maßnahmen gegen sexuelle Gewalt an. Unter anderem wurde eine sogenannte Abstandsfessel (bracelet d’éloignement) eingeführt. Diese funktioniert ähnlich wie eine elektronische Fußfessel für Strafgefangene, die ihre Haft zu Hause oder an einem Arbeitsplatz verbüßen können, signalisiert jedoch nicht jederzeit den Aufenthaltsort, sondern nur eine unerlaubte Annäherung an die bedrohte Person. Der Mindestabstand zum Opfer kann dabei auf eine Distanz zwischen einem und zehn Kilometern geregelt werden. 1 00 solcher Geräte wurden angeschafft, jedoch ­bislang nur insgesamt 61 davon ausgegeben. Im Fall Boutaa kamen sie nicht zum Einsatz. Das Gesamtbudget für die Maßnahmen liegt bei fünf Millionen Euro; in Spanien, das 2019 ein Gesetz gegen sexuelle Gewalt verabschiedet hat und mehr politische Entschlusskraft an den Tag legte, war es von Anfang an dreimal höher. Das französische Justizministerium hat eine Untersuchung und für den Fall, dass Versäumnisse vorlägen, Konsequenzen angekündigt.

Nach zwei Tagen verdrängte der Tod des Polizisten medial den Femizid. Eine Trauerkundgebung für Éric Masson vor seiner früheren Dienststelle, zu der Polizeigewerkschaften aufgerufen hatten und an der rund 2 00 Menschen teilnahmen – Avignon hat rund 9000 Einwohner –, wurde am Sonntag in den auf 24-Stunden-Liveberichterstattung spezialisierten Fernsehsendern wie dem wirtschaftsliberalen BFM TV und dem rechten bis rechtsextremen CNews wie ein Staatsbegräbnis von Anfang bis Ende live übertragen. Die Begräbnisfeier war für Mittwoch dieser Woche in einer Kirche angekündigt, die staatsoffizielle Trauerzeremonie unter Vorsitz des Premierministers Jean Castex für Dienstag.

Der Linkspopulist Jean-Luc Mélenchon verurteilte einerseits den Polizistenmord klar, wies aber andererseits hinsichtlich dessen medialer Darstellung darauf hin, im vorigen Jahr seien auch »59 Dachdecker bei Ausübung ihre Berufs zu Tode gekommen«, wovon niemand spreche. Dafür erntete er bei einer Talkshow am Sonntag bei BFM TV böse Journalistenblicke.

Die Polizeigewerkschaften, die am Sonntagabend auf den Pariser Champs-Élysées demonstrierten – was bereits in jüngerer Vergangenheit vorkam, obwohl es illegal ist –, nutzten die Gunst der Stunde, um nicht nur Trauer, sondern auch politische Forderungen vorzutragen. Die Polizeigewerkschaften sind nicht allein wegen der jüngsten Verbrechen erzürnt, sondern auch wegen des Vorgehens der Justiz. Traditionell sind viele Polizisten der Auffassung, man nehme Übeltäter fest, nur damit Richter diese später freiließen oder allenfalls zu geringfügigen oder Bewährungsstrafen verurteilten.

Kürzlich empörte eine Entscheidung einer Strafkammer am Pariser Berufungsgericht die Polizeigewerkschaften. In der Nacht des 17. April fällte die Kammer ein zweitinstanzliches Urteil gegen 13 Personen, die daran beteiligt gewesen sein sollen, als im Oktober 2016 in der Hochhaussiedlung La Grande Borne – ein ausgedehntes Problemgebiet nahe Paris – Polizisten durch Molotow-Cocktails verletzt wurden, zwei von ihnen schwer. In erster Instanz wurden acht Personen für schuldig befunden und fünf freigesprochen; im Berufungsprozess wurden fünf zu jeweils sechs bis 18 Jahren Haft verurteilt, der Rest freigesprochen.

Die Polizei vertritt die Auffassung, hier seien Personen, die ihre Kollegen verbrannt hätten, mutwillig auf freien Fuß gesetzt worden. Die Realität ist komplizierter: Die Verteidiger geben an, die polizeilichen Ermittler hätten zwar reichlich Zorn und Feindseligkeit gegen die zunächst Festgenommenen, aber wenig Akribie bei ihrer Arbeit an den Tag gelegt. Mehrere Zeugenaus­sagen und Vernehmungsprotokolle waren unbrauchbar, zum Beispiel weil die beschriebene Person offenkundig nicht dieselbe Hautfarbe wie der jeweilige Angeklagte hatte.

Die etablierten Polizeigewerkschaften wie Alliance fordern nun öffentlich Mindeststrafmaße, an die die Richter gebunden sein sollen, aber auch »ein Ende des Polizei-Bashings«, das im Zusammenhang mit dem Tod von George Floyd in den USA und den Protesten ­gegen Polizeigewalt auch in Frankreich seit Juni vorigen Jahres Medien und Politik angeblich betrieben.

Für Mittwoch kommender Woche ruft die Polizei dazu auf, in Trauer um getötete Polizisten, aber auch für Respekt vor der Uniform und der Institution landesweit zu demonstrieren; mehrere Abgeordnete des rechtsextremen Rassemblement national (RN) ­haben ihre Teilnahme angekündigt. Das rechtsextreme Wochenmagazin Valeurs actuelles publizierte am Sonntag bereits den zweiten Aufruf von Militärangehörigen, die erneut vor einem »Bürgerkrieg« warnen. Dieses Mal sind die unterzeichnenden Militärangehörigen nicht Ruheständler oder Reservisten wie beim ersten Appell im April, sondern stehen im aktiven Dienst, bleiben jedoch anonym. Neben ihnen konnten dieses Mal auch Zivilisten als Unterstützer unterschreiben. Am Montagmorgen waren bereits über 100 00 Unterschriften zusammengekommen.